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diff --git a/buch/chapters/00-einleitung/chapter.tex b/buch/chapters/00-einleitung/chapter.tex index 4c49622..a6b62b1 100644 --- a/buch/chapters/00-einleitung/chapter.tex +++ b/buch/chapters/00-einleitung/chapter.tex @@ -7,4 +7,234 @@ \lhead{Einleitung} \rhead{} \addcontentsline{toc}{chapter}{Einleitung} +Die Mathematik befasst sich neben dem Rechnen mit Zahlen, der Arithmetik, +mit einer Vielzahl von Abstraktionen, die oft überhaupt nichts mit +Zahlen zu tun haben. +Die Geometrie studiert zum Beispiel Objekte wie Punkte, Geraden, Kreise +und deren Beziehungen untereinander, die man definieren kann ganz ohne +das Wissen, was eine Zahl ist. +Apollonius von Perga (262--190 BCE) hat in seinem Buch über Kegelschnitte +als erster einen algebraischen Zusammenhang zwischen Zahlen festgestellt, +die man also die Vorläufer heutiger Koordinaten eines Punktes ansehen könnte. +Erst im 16.~Jahrhundert entwickelte sich die Algebra allerdings weit genug, +dass eine Algebraisierung der Geometrie möglich wurde. +Pierre de Fermat +\index{Fermat, Pierre de}% +und René Descartes +\index{Descartes, René}% +schufen die sogenannte {\em analytische Geometrie}. +Das rechtwinklige Koordinatensystem, nach Descartes auch karteisches +Koordinatensystem genannt, beschreibt Punkte als Zahlenpaare $(x,y)$ +und Kurven in der Ebene durch ihre Gleichungen. +Geraden können als Graphen der Funktion $f(x) = ax+b$ oder als Lösungsmenge +linearer Gleichungen wie $ax+by=c$ verstanden werden. +Eine Parabel kann als Graph einer quadratischen Funktion $f(x)=ax^2+bx+c$ +dargestellt werden. +Die Punkte $(x,y)$ eines Kreises lösen eine Gleichung der Form +\[ +(x-x_M)^2 + (y-y_M)^2 = r^2. +\] +Mit dieser einfachen Idee konnte jedes geometrische Problem in der Ebene +in ein algebraisches Problem übersetzt werden und umgekehrt. + +Die Algebraisierung macht allerdings auch klar, dass dem Aufbau des +Zahlensystems mehr Beachtung geschenkt werden muss. +Zum Beispiel beschreibt die Gleichung +\[ +x^2+(y-1)^2=4 +\] +einen Kreis mit Radius $2$ um den Punkt $(0,1)$. +Der Kreis hat natürlich zwei Schnittpunkte mit der $x$-Achse, wie jede +Gerade, deren Abstand vom Mittelpunkt des Kreises kleiner als der Radius +ist. +Die Schnittpunkte haben die Koordinaten $(x_S,0)$ und $x_S$ muss die +Gleichung +\[ +x_S^2 + (0-1)^2 = x_S^2+1=4 +\qquad\Rightarrow\qquad +x_S^2=3 +\] +erfüllen. +Eine solche Lösung ist nicht möglich, wenn man sich auf rationale +Koordinaten $x_S\in\mathbb{Q}$ beschränkt, die Erweiterung auf +reelle Zahlen ist notwendig. + +Kapitel~\ref{buch:chapter:zahlen} übernimmt die Aufgabe, die Zahlensysteme +klar zu definieren und ihre wichtigsten Eigenschaften zusammenzutragen. +Sie bilden das Fundament aller folgenden Konstruktionen. + +Die reellen Zahlen erweitern die rationalen Zahlen derart, dass damit +zum Beispiel quaddratische Gleichungen gelöst werden können. +Dies ist aber nicht die einzige mögliche Vorgehensweise. +Die Zahl $\alpha=\sqrt{2}$ ist ja nur ein Objekt, mit dem gerechnet werden +kann wie mit jeder anderen Zahl, welche aber die zusätzliche Rechenregel +$\alpha^2=2$ erfüllt. +Die Erweiterung von $\mathbb{R}$ zu den komplexen Zahl verlangt nur, +dass man der Menge $\mathbb{R}$ ein neues algebraisches Objekt $i$ +hinzufügt, welches als spezielle Eigenschaft die Gleichung $i^2=-1$ hat. +Bei $\sqrt{2}$ hat die geometrische Anschauung suggeriert, dass es eine +solche Zahl ``zwischen'' den rationalen Zahlen gibt, aber für $i$ +gibt es keine solche Anschauung. +Die imaginäre Einheit $i$ erhielt daher auch diesen durchaus +abwertend gemeinten Namen. + +Die Zahlensysteme lassen sich also verstehen als einfachere Zahlensysteme, +denen man zusätzliche Objekte mit besonderen algebraischen Eigenschaften +hinzufügt. +Doch was sind das für Objekte, gibt es die überhaupt? +Kann man deren Existenz einfach so postulieren, so wie man das mit $i$ +gemacht hat? +Und was macht man, wenn man sich den nächsten ``algebraischen Wunsch'' +erfüllen will, auch einfach wieder die Existenz des neuen Objektes +postulieren? + +Komplexen Zahlen und Matrizen zeigen, wie das gehen könnte. +Indem man vier rationale Zahlen als $2\times 2$-Matrix in der Form +\[ +A= +\begin{pmatrix} +a_{11}&a_{12}\\ +a_{21}&a_{22} +\end{pmatrix} +\] +gruppiert und die Rechenoperationen +\begin{align*} +A+B +& +\begin{pmatrix} +a_{11}&a_{12}\\ +a_{21}&a_{22} +\end{pmatrix} ++ +\begin{pmatrix} +b_{11}&b_{12}\\ +b_{21}&b_{22} +\end{pmatrix} += +\begin{pmatrix} +a_{11}+b_{11}&a_{12}+b_{12}\\ +a_{21}+b_{21}&a_{22}+b_{22} +\end{pmatrix} +\\ +AB +&= +\begin{pmatrix} +a_{11}&a_{12}\\ +a_{21}&a_{22} +\end{pmatrix} +\begin{pmatrix} +b_{11}&b_{12}\\ +b_{21}&b_{22} +\end{pmatrix} += +\begin{pmatrix} +a_{11}b_{11} + a_{12}b_{21} & a_{11}b_{21} + a_{12}b_{22} \\ +a_{21}b_{11} + a_{22}b_{21} & a_{21}b_{21} + a_{22}b_{22} +\end{pmatrix} +\end{align*} +definiert, kann man neue Objekte mit zum Teil bekannten, zum Teil +aber auch ungewohnten algebraischen Eigenschaften bekommen. +Die Matrizen der Form +\[ +A_a += +\begin{pmatrix} a&0\\0&a \end{pmatrix}, +\quad +a\in\mathbb{Q} +\] +zum Beispiel erfüllen alle Regeln für das Rechnen mit rationalen Zahlen. +$\mathbb{Q}$ kann man also als Teilmenge des neuen Systems ansehen. +Aber die Matrix +\[ +J += +\begin{pmatrix} 0&-1\\1&0 \end{pmatrix} +\] +hat die Eigenschaft +\[ +J^2 = +\begin{pmatrix} 0&-1\\1&0 \end{pmatrix} +\begin{pmatrix} 0&-1\\1&0 \end{pmatrix} += +\begin{pmatrix} -1&0\\0&-1\end{pmatrix} += +-E = -A_1. +\] +Das neue Objekt $J$ ist ein explizit konstruiertes Objekt, welches +die genau die rechnerischen Eigenschaften der imaginären Einheit $i$. + +Die imaginäre Einheit ist nicht die einzige Grösse, die sich auf diese +Weise konstruieren lässt. +Zum Beispiel erfüllt die Matrix +\[ +W=\begin{pmatrix} 0&2\\1&0 \end{pmatrix} +\qquad\text{die Gleichung}\qquad +W^2 = \begin{pmatrix} 2&0\\0&2\end{pmatrix} = A_2, +\] +die Menge der Matrizen der +\[ +\mathbb{Q}(\sqrt{2}) += +\left\{\left. +\begin{pmatrix} a&2b\\ b&a\end{pmatrix} +\;\right|\; +a,b\in\mathbb{Q} +\right\} +\] +verhält sich daher genau so wie die Menge der rationalen Zahlen, denen +man ein ``imaginäres'' neues Objekt $\sqrt{2}$ hinzugefügt hat. + +Matrizen sind also ein Werkzeug, mit dem sich algebraisches Systeme +mit fast beliebigen Eigenschaften konstruieren lassen. +Dies führt zu einer Explosion der denkbaren algebraischen Strukturen. +Kapitel~\ref{buch:chapter:vektoren-und-matrizen} bringt etwas Ordnung +in diese Vielfalt, indem die grundlegenden Strukturen charakterisiert +und benannt werden. + +In den folgenden Kapiteln sollen dann weitere algebraische Konstrukte +studiert und mit Matrizen realisiert werden. +Den Anfang machen in Kapitel~\ref{buch:chapter:polynome} die Polynome. +Polynome beschreiben grundlegende algebraische Eigenschaften eines +einzelnen Objektes, sowohl $\sqrt{2}$ wie auch $i$ sind Lösungen einer +Polynomgleichung. + +Eine besondere Rolle spielen in der Mathematik die Symmetrien. +Eine der frühesten Anwendungen dieses Gedankens in der Algebra war +die Überlegung, dass sich die Nullstellen einer Polynomgleichung +permutieren lassen. +Die Idee der Permutationsgruppe taucht auch in algebraischen Konstruktionen +wie der Determinanten auf. +Tatsächlich lassen sich Permutationen auch als Matrizen schreiben +und die Rechenregeln für Determinanten sind ein direktes Abbild +gewisser Eigenschaften von Transpositionen. +Einmal mehr haben Matrizen ermöglicht, ein neues Konzept in einer +bekannten Sprache auszudrücken. + +Die Darstellungstheorie ist das Bestreben, nicht nur Permutationen, +sondern beliebige Gruppen von Symmetrien als Mengen von Matrizen +darzustellen. +Die abstrakten Symmetriegruppen erhalten damit immer konkrete +Realisierungen als Matrizenmengen. +Auch kompliziertere Strukturen wie Ringe, Körper oder Algebren +lassen sich mit Matrizen realisieren. +Aber die Idee ist nicht auf die Geometrie beschränkt, auch analytische +oder kombinatorische Eigenschaften lassen sich in Matrizenstrukturen +abbilden und damit neuen rechnerischen Behandlungen zugänglich +machen. + +Das Kapitel~\ref{buch:chapter:homologie} illustriert, wie weit dieser +Plan führen kann. +Die Konstruktion der Homologiegruppen zeigt, wie sich die Eigenschaften +der Gestalt gewisser geometrischer Strukturen zunächst mit Matrizen, +die kombinatorische Eigenschaften beschreiben, ausdrücken lassen. +Anschliessend können daraus wieder algebraische Strukturen gewonnen +werden. +Gestalteigenschaften werden damit der rechnerischen Untersuchung zugänglich. + +Die folgenden Kapitel sollen zeigen, wie Matrizen der Schlüssel dafür +sein können, fast jede denkbare rechnerische Struktur zu verstehen und +auch zum Beispiel für die Berechnung mit dem Computer zu realisieren. + + + |