From 2db90bfe4b174570424c408f04000902411d8755 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Joshua Baer Date: Mon, 12 Apr 2021 21:51:55 +0200 Subject: update to current state of book --- buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex | 1450 +++++++++++++++---------------- 1 file changed, 725 insertions(+), 725 deletions(-) (limited to 'buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex') diff --git a/buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex b/buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex index 7364c85..c0a0fb8 100644 --- a/buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex +++ b/buch/chapters/60-gruppen/symmetrien.tex @@ -1,725 +1,725 @@ -% -% symmetrien.tex -- Geometrische Beschreibung von Symmetrien, O(n), SO(n), -% Spiegelungen -% -% (c) 2020 Prof Dr Andreas Müller, Hochschule Rapperswil -% -\section{Symmetrien -\label{buch:section:symmetrien}} -\rhead{Symmetrien} -Der geometrische Begriff der Symmetrie meint die Eigenschaft eines -geometrischen Objektes, dass es bei einer Bewegung auf sich selbst -abgebildet wird. -Das Wort stammt aus dem altgriechischen, wo es {\em Gleichmass} -bedeutet. -Spiegelsymmetrische Objekte zeichnen sich zum Beispiel dadurch aus, -dass Messungen von Strecken die gleichen Werte ergeben wie die Messungen -der entsprechenden gespiegelten Strecken (siehe auch -Abbildung~\ref{buch:lie:bild:castlehoward}, was die Herkunft des -Begriffs verständlich macht. -\begin{figure} -\centering -\includegraphics[width=\textwidth]{chapters/60-gruppen/images/castle.jpeg} -\caption{Das Castle Howard in Yorkshire war in dieser ausgeprägt symmetrischen -Form geplant, wurde dann aber in modifizeirter Form gebaut. -Messungen zwischen Punkten in der rechten Hälfte des Bildes -ergeben die gleichen Werte wie Messungen entsprechenden Strecken -in der linken Hälfte, was den Begriff Symmetrie rechtfertigt. -\label{buch:lie:bild:castlehoward}} -\end{figure} -In der Physik wird dem Begriff der Symmetrie daher auch eine erweiterte -Bedeutung gegeben. -Jede Transformation eines Systems, welche bestimmte Grössen nicht -verändert, wird als Symmetrie bezeichnet. -Die Gesetze der Physik sind typischerweise unabhängig davon, wo man den -den Nullpunkt der Zeit oder das räumlichen Koordinatensystems ansetzt, -eine Transformation des Zeitnullpunktes oder des Ursprungs des -Koordinatensystems ändert daher die Bewegungsgleichungen nicht, sie ist -eine Symmetrie des Systems. - -Umgekehrt kann man fragen, welche Symmetrien ein System hat. -Da sich Symmetrien zusammensetzen und umkehren lassen, kann man in davon -ausgehen, dass die Symmetrietransformationen eine Gruppe bilden. -Besonders interessant ist dies im Falle von Transformationen, die -durch Matrizen beschrieben weren. -Eine unter der Symmetrie erhaltene Eigenschaft definiert so eine -Untergruppe der Gruppe $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ der -invertierbaren Matrizen. -Die erhaltenen Eigenschaften definieren eine Menge von Gleichungen, -denen die Elemente der Untergruppe genügen müssen. -Als Lösungsmenge einer Gleichung erhält die Untergruppe damit eine -zusätzliche geometrische Struktur, man nennt sie eine differenzierbare -Mannigfaltigkeit. -Dieser Begriff wird im Abschnitt~\ref{buch:subsection:mannigfaltigkeit} -eingeführt. -Es wird sich zum Beispiel zeigen, dass die Menge der Drehungen der -Ebene mit den Punkten eines Kreises parametrisieren lassen, -die Lösungen der Gleichung $x^2+y^2=1$ sind. - -Eine Lie-Gruppe ist eine Gruppe, die gleichzeitig eine differenzierbare -Mannigfaltigkeit ist. -Die Existenz von geometrischen Konzepten wie Tangentialvektoren -ermöglicht zusätzliche Werkzeuge, mit denen diese Gruppe untersucht -und verstanden werden können. -Ziel dieses Abschnitts ist, die Grundlagen für diese Untersuchung zu -schaffen, die dann im Abschnitt~\ref{buch:section:lie-algebren} -durchgeführt werden soll. - -\subsection{Algebraische Symmetrien -\label{buch:subsection:algebraische-symmetrien}} -Mit Matrizen lassen sich Symmetrien in einem geometrischen Problem -oder in einem physikalischen System beschreiben. -Man denkt dabei gerne zuerst an geometrische Symmetrien wie die -Symmetrie unter Punktspiegelung oder die Spiegelung an der $x_1$-$x_2$-Ebene, -wie sie zum Beispiel durch die Abbildungen -\[ -\mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : x\mapsto -x -\qquad\text{oder}\qquad -\mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : -\begin{pmatrix}x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} -\mapsto -\begin{pmatrix}-x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} -\] -dargestellt werden. -Beide haben zunächst die Eigenschaft, dass Längen und Winkel und damit -das Skalarprodukt erhalten sind. -Diese Eigenschaft allein erlaubt aber noch nicht, die beiden Transformationen -zu unterscheiden. -Die Punktspiegelung zeichnet sich dadurch aus, das alle Geraden und alle -Ebenen durch den Ursprung auf sich selbst abgebildet werden. -Dies funktioniert für die Ebenenspiegelung nicht, dort bleibt nur die -Spiegelungsebene (die $x_1$-$x_2$-Ebene im vorliegenden Fall) und -ihre Normale erhalten. -Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie solche Symmetriedefinitionen -auf algebraische Bedingungen an die Matrixelemente führen. - -Zu jeder Abbildung $f\colon\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$, unter der -ein geometrisches Objekt in $\mathbb{R}^n$ symmetrisch ist, können wir -sofort weitere Abbildungen angeben, die ebenfalls Symmetrien sind. -Zum Beispiel sind die iterierten Abbildungen $f\circ f$, $f\circ f\circ f$ -u.~s.~w., die wir auch $f^n$ mit $n\in\mathbb{N}$ schreiben werden, -ebenfalls Symmetrien. -Wenn die Symmetrie auch umkehrbar ist, dann gilt dies sogar für alle -$n\in\mathbb{Z}$. -Wir erhalten so eine Abbildung -$\varphi\colon \mathbb{Z}\to \operatorname{GL}_n(\mathbb{R}):n\mapsto f^n$ -mit den Eigenschaften $\varphi(0)=f^0 = I$ und -$\varphi(n+m)=f^{n+m}=f^n\circ f^m = \varphi(n)\circ\varphi(m)$. -$\varphi$ ist ein Homomorphismus der Gruppe $\mathbb{Z}$ in die Gruppe -$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. -Wir nennen dies eine {\em diskrete Symmetrie}. - -\subsection{Kontinuierliche Symmetrien -\label{buch:subsection:kontinuierliche-symmetrien}} -Von besonderem Interesse sind kontinuierliche Symmetrien. -Dies sind Abbildungen eines Systems, die von einem Parameter -abhängen. -Zum Beispiel können wir Drehungen der Ebene $\mathbb{R}^2$ um den -Winkel $\alpha$ durch Matrizen -\[ -D_{\alpha} -= -\begin{pmatrix} -\cos\alpha&-\sin\alpha\\ -\sin\alpha& \cos\alpha -\end{pmatrix} -\] -beschrieben werden. -Ein Kreis um den Nullpunkt bleibt unter jeder dieser Drehungen invariant. -Im Gegensatz dazu sind alle $3n$-Ecke mit Schwerpunkt $0$ nur invariant -unter der einen Drehung $D_{\frac{2\pi}3}$ invariant. -Die kleinste Menge, die einen vorgegebenen Punkt enthält und unter -allen Drehungen $D_\alpha$ invariant ist, ist immer ein Kreis um -den Nullpunkt. - -\begin{definition} -Ein Homomorphismus $\varphi\colon\mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ -von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in die allgemeine lineare Gruppe -heisst eine {\em Einparameter-Untergruppe} von -$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. -\end{definition} - -Die Abbildung -\[ -\varphi -\colon -\mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R}) -: -\alpha \mapsto -D_{\alpha} -= -\begin{pmatrix} -\cos\alpha&-\sin\alpha\\ -\sin\alpha& \cos\alpha -\end{pmatrix} -\] -ist also eine Einparameter-Untergruppe von $\operatorname{GL}_2(\mathbb{R})$. - -\subsubsection{Der harmonische Oszillator} -\begin{figure} -\centering -\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/phasenraum.pdf} -\caption{Die Lösungen der -Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} -im Phasenraum sind Ellipsen mit Halbachsenverhältnis $\omega^{-1}$. -\label{chapter:gruppen:fig:phasenraum}} -\end{figure} -Eine Masse $m$ verbunden mit einer Feder mit der Federkonstanten $K$ -schwingt um die Ruhelage $x=0$ entsprechend der Differentialgleichung -\[ -m\frac{d^2}{dt^2} x(t) = -Kx(t). -\] -Die Kreisfrequenz der Schwingung ist -\[ -\omega = \sqrt{\frac{K}{m}}. -\] -Das System kann als zweidimensionales System im Phasenraum mit den -Koordinaten $x_1=x$ und $x_2=p=m\dot{x}$ beschrieben werden. -Die zweidimensionale Differentialgleichung ist -\begin{equation} -\left. -\begin{aligned} -\dot{x}(t) &= \frac{1}{m}p(t)\\ -\dot{p}(t) &= -Kx(t) -\end{aligned} -\quad -\right\} -\qquad\Rightarrow\qquad -\frac{d}{dt} -\begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix} -= -\begin{pmatrix} -0&\frac{1}{m}\\ --K&0 -\end{pmatrix} -\begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix}. -\label{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} -\end{equation} -Die Lösung der Differentialgleichung für die Anfangsbedingung $x(0)=1$ und -$p(0)=0$ ist -\[ -x(t) -= -\cos \omega t -\qquad\Rightarrow\qquad -p(t) -= --\omega \sin\omega t, -\] -die Lösung zur Anfangsbedingung $x(0)=0$ und $p(0)=1$ ist -\[ -x(t) = \frac{1}{\omega} \sin\omega t, -\qquad -p(t) = \cos \omega t. -\] -In Matrixform kann man die allgemeine Lösung zur Anfangsbedingun $x(0)=x_0$ -und $p(0)=p_0$ -\begin{equation} -\begin{pmatrix} -x(t)\\ -p(t) -\end{pmatrix} -= -\underbrace{ -\begin{pmatrix} - \cos \omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ --\omega \sin\omega t & \cos\omega t -\end{pmatrix} -}_{\displaystyle =\Phi_t} -\begin{pmatrix}x_0\\p_0\end{pmatrix} -\label{buch:gruppen:eqn:phi} -\end{equation} -schreiben. -Die Matrizen $\Phi_t$ bilden eine Einparameter-Untergruppe von -$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$, da -\begin{align*} -\Phi_s\Phi_t -&= -\begin{pmatrix} - \cos\omega s & \frac{1}{\omega} \sin\omega s \\ --\omega \sin\omega s & \cos\omega s -\end{pmatrix} -\begin{pmatrix} - \cos\omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ --\omega \sin\omega t & \cos\omega t -\end{pmatrix} -\\ -&= -\begin{pmatrix} -\cos\omega s \cos\omega t - \sin\omega s \sin\omega t -& \frac{1}{\omega} ( \cos\omega s \sin\omega t + \sin\omega s \cos \omega t) -\\ --\omega (\sin\omega s \cos\omega t + \cos\omega s \sin\omega t ) -& \cos\omega s \cos\omega t -\sin\omega s \sin\omega t -\end{pmatrix} -\\ -&= -\begin{pmatrix} - \cos\omega(s+t) & \frac{1}{\omega}\sin\omega(s+t) \\ --\omega \sin\omega(s+t) & \cos\omega(s+t) -\end{pmatrix} -= -\Phi_{s+t} -\end{align*} -gilt. -Die Lösungen der -Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} -sind in Abbildung~\ref{chapter:gruppen:fig:phasenraum} -Die Matrizen $\Phi_t$ beschreiben eine kontinuierliche Symmetrie -des Differentialgleichungssystems, welches den harmonischen Oszillator -beschreibt. - -\subsubsection{Fluss einer Differentialgleichung} -Die Abbildungen $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} sind jeweils -Matrizen in $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. -Der Grund dafür ist, dass die -Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} -linear ist. -Dies hat zur Folge, dass für zwei Anfangsbedingungen $x_1,x_2\in\mathbb{R}^2$ -die Lösung für Linearkombinationen $\lambda x_1+\mu x_2$ durch -Linearkombination der Lösungen erhalten werden kann, also -aus der Formel -\[ -\Phi_t (\lambda x_1 + \mu x_2) = \lambda \Phi_t x_1 + \mu \Phi_t x_2. -\] -Dies zeigt, dass $\Phi_t$ für jedes $t$ eine lineare Abbildung sein muss. - -Für eine beliebige Differentialgleichung kann man immer noch eine Abbildung -$\Phi$ konstruieren, die aber nicht mehr linear ist. -Sei dazu die Differentialgleichung erster Ordnung -\begin{equation} -\frac{dx}{dt} -= -f(t,x) -\qquad\text{mit}\qquad -f\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n -\label{buch:gruppen:eqn:dgl} -\end{equation} -gegeben. -Für jeden Anfangswert $x_0\in\mathbb{R}^n$ kann man mindestens für eine -gewisse Zeit $t <\varepsilon$ eine Lösung $x(t,x_0)$ finden mit $x(t,x_0)=x_0$. -Aus der Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen ist auch -bekannt, dass $x(t,x_0)$ mindestens in der Nähe von $x_0$ differenzierbar von -$x_0$ abhängt. -Dies erlaubt eine Abbildung -\[ -\Phi\colon \mathbb{R}\times \mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n -: -(t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) = x(t,x_0) -\] -zu definieren, die sowohl von $t$ als auch von $x_0$ differenzierbar -abhängt. -Aus der Definition folgt unmittelbar, dass $\Phi_0(x_0)=x_0$ ist, dass -also $\Phi_0$ die identische Abbildung von $\mathbb{R}^n$ ist. - -Aus der Definition lässt sich auch ableiten, dass -$\Phi_{s+t}=\Phi_s\circ\Phi_t$ gilt. -$\Phi_t(x_0)=x(t,x_0)$ ist der Endpunkt der Bahn, die bei $x_0$ beginnt -und sich während der Zeit $t$ entwickelt. -$\Phi_s(x(t,x_0))$ ist dann der Endpunkt der Bahn, die bei $x(t,x_0)$ -beginnt und sich während der Zeit $s$ entwickelt. -Somit ist $\Phi_s\circ \Phi_t(x_0)$ der Endpunkt der Bahn, die bei -$x_0$ beginnt und sich über die Zeit $s+t$ entwickelt. -In Formeln bedeutet dies -\[ -\Phi_{s+t} = \Phi_s\circ \Phi_t. -\] -Die Abbildung $t\mapsto \Phi_t$ ist also wieder ein Homomorphismus -von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in eine Gruppe von differenzierbaren -Abbildungen $\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$. - -\begin{definition} -Die Abbildung -\[ -\Phi\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n -: -(t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) = x(t,x_0) -\] -heisst der {\em Fluss} der Differentialgleichung -\eqref{buch:gruppen:eqn:dgl}, -wenn für jedes $x_0\in\mathbb{R}^n$ die Kurve $t\mapsto \Phi_t(x_0)$ -eine Lösung der Differentialgleichung ist mit Anfangsbedingung $x_0$. -\end{definition} - -Die Abbildung $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} ist also -der Fluss der Differentialgleichung des harmonischen Oszillators. - -\subsection{Mannigfaltigkeiten -\label{buch:subsection:mannigfaltigkeit}} -Eine Differentialgleichung der Form~\eqref{buch:gruppen:eqn:dgl} -stellt einen Zusammenhang her zwischen einem Punkt $x$ und der -Tangentialrichtung einer Bahnkurve $f(t,x)$. -Die Ableitung liefert die lineare Näherung der Bahkurve -\[ -x(t_0+h) = x(t_0) + h f(t_0,x_0) + o(h) -\] -für $h$ in einer kleinen Umgebung von $0$. -Das funktioniert auch, weil $f(t_0,x_0)$ selbst ein Vektor von -$\mathbb{R}^n$ ist, in dem die Bahnkurve verläuft. - -Diese Idee funktioniert nicht mehr zum Beispiel für eine -Differentialgleichung auf einer Kugeloberfläche, weil alle Punkte -$x(t_0)+hf(t_0,x_0)$ für alle $h\ne 0$ nicht mehr auf der Kugeloberfläche -liegen. -Physikalisch äussert sich das ein einer zusätzlichen Kraft, die nötig -ist, die Bahn auf der Kugeloberfläche zu halten. -Diese Kraft stellt zum Beispiel sicher, dass die Vektoren $f(t,x)$ für -Punkte $x$ auf der Kugeloberfläche immer tangential an die Kugel sind. -Trotzdem ist der Tangentialvektor oder der Geschwindigkeitsvektor -nicht mehr ein Objekt, welches als Teil der Kugeloberfläche definiert -werden kann, er kann nur definiert werden, wenn man sich die Kugel als -in einen höherdimensionalen Raum eingebettet vorstellen kann. - -Um die Idee der Differentialgleichung auf einer beliebigen Fläche -konsistent zu machen ist daher notwendig, die Idee einer Tagentialrichtung -auf eine Art zu definieren, die nicht von der Einbettung der Fläche -in den $n$-dimensionalen Raum abhängig ist. -Das in diesem Abschnitt entwickelte Konzept der {\em Mannigfaltigkeit} -löst dieses Problem. - -\subsubsection{Karten} -Die Navigation auf der Erdoberfläche verwendet das Koordinatensystem -der geographischen Länge und Breite. -Dieses Koordinatensystem funktioniert gut, solange man sich nicht an -den geographischen Polen befindet, denn deren Koordinaten sind -nicht mehr eindeutig. -Alle Punkte mit geographischer Breite $90^\circ$ und beliebiger -geographischer Länge beschreiben den Nordpol. -Auch die Ableitung funktioniert dort nicht mehr. -Bewegt man sich mit konstanter Geschwindigkeit über den Nordpol, -springt die Ableitung der geographischen Breite von einem positiven -Wert auf einen negativen Wert, sie kann also nicht differenzierbar sein. -Diese Einschränkungen sind in der Praxis nur ein geringes Problem dar, -da die meisten Reisen nicht über die Pole erfolgen. - -Der Polarforscher, der in unmittelbarer Umgebung des Poles arbeitet, -kann das Problem lösen, indem er eine lokale Karte für das Gebiet -um den Pol erstellt. -Dafür kann er beliebige Koordinaten verwenden, zum Beispiel auch -ein kartesisches Koordinatensystem, er muss nur eine Methode haben, -wie er seine Koordinaten wieder auf geographische Länge und Breite -umrechnen will. -Und wenn er über Geschwindigkeiten kommunizieren will, dann muss -er auch Ableitungen von Kurven in seinem kartesischen Koordinatensystem -umrechnen können auf die Kugelkoordinaten. -Dazu muss seine Umrechnungsformel von kartesischen Koordinaten -auf Kugelkoordinaten differenzierbar sein. - -Diese Idee wird durch das Konzept der Mannigfaltigkeit verallgemeinert. -Eine $n$-dimensionale {\em Mannigfaltigkeit} ist eine Menge $M$ von Punkten, -die lokal, also in der Umgebung eines Punktes, mit möglicherweise mehreren -verschiedenen Koordinatensystemen versehen werden kann. -Ein Koordinatensystem ist eine umkehrbare Abbildung einer offenen Teilmenge -$U\subset M$ in den Raum $\mathbb{R}^n$. -Die Komponenten dieser Abbildung heissen die {\em Koordinaten}. - -\begin{figure} -\centering -\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/karten.pdf} -\caption{Karten -$\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to \mathbb{R}^2$ -und -$\varphi_\beta\colon U_\beta\to \mathbb{R}^2$ -auf einem Torus. -Auf dem Überschneidungsgebiet $\varphi_\alpha^{-1}(U_\alpha\cap U_\beta)$ -ist der Kartenwechsel $\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}$ wohldefiniert -und muss differnzierbar sein, wenn eine differenzierbare Mannigfaltigkeit -entstehen soll. -\label{buch:gruppen:fig:karten}} -\end{figure} - -\begin{definition} -Eine Karte auf $M$ ist eine umkehrbare Abbildung -$\varphi\colon U\to \mathbb{R}^n$ (siehe auch -Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:karten}). -Ein differenzierbarer Atlas ist eine Familie von Karten $\varphi_\alpha$ -derart, dass die Definitionsgebiete $U_\alpha$ die ganze Menge $M$ -überdecken, und dass die Kartenwechsel Abbildungen -\[ -\varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1} -\colon -\varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta) -\to -\varphi_\beta(U_\alpha\cap U_\beta) -\] -als Abbildung von offenen Teilmengen von $\mathbb{R}^n$ differenzierbar -ist. -Eine {$n$-dimensionale differenzierbare Mannigfaltigkeit} ist eine -Menge $M$ mit einem differenzierbaren Atlas. -\end{definition} - -Karten und Atlanten regeln also nur, wie sich verschiedene lokale -Koordinatensysteme ineinander umrechnen lassen. - -\begin{beispiel} -$M=\mathbb{R}^n$ ist eine differenzierbare Mannigfaltigkeit denn -die identische Abbildung $M\to \mathbb{R}^n$ ist eine Karte und ein -Atlas von $M$. -\end{beispiel} - -\begin{beispiel} -\begin{figure} -\centering -\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/kartenkreis.pdf} -\caption{Karten für die Kreislinie $S^1\subset\mathbb{R}^2$. -\label{buch:gruppen:fig:kartenkreis}} -\end{figure} -Die Kreislinie in in der Ebene ist eine $1$-dimensionale Mannigfaltigkeit. -Natürlich kann sie nicht mit einer einzigen Karte beschrieben werden, -da es keine umkehrbaren Abbildungen zwischen $\mathbb{R}$ und der Kreislinie -gibt. -Die Projektionen auf die einzelnen Koordinaten liefern die folgenden -vier Karten: -\begin{align*} -\varphi_1&\colon U_{x>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x>0\} \to\mathbb{R} -: -(x,y) \mapsto y -\\ -\varphi_2&\colon U_{x<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x<0\} \to\mathbb{R} -: -(x,y) \mapsto y -\\ -\varphi_3&\colon U_{y>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y>0\} \to\mathbb{R} -: -(x,y) \mapsto x -\\ -\varphi_4&\colon U_{y<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y<0\} \to\mathbb{R} -: -(x,y) \mapsto x -\end{align*} -Die Werte der Kartenabbildungen sind genau die $x$- und $y$-Koordinaten -auf der in den Raum $\mathbb{R}^2$ eingebetteten Kreislinie. - -Für $\varphi_1$ und $\varphi_2$ sind die Definitionsgebiete disjunkt, -hier gibt es also keine Notwendigkeit, Koordinatenumrechnungen vornehmen -zu können. -Dasselbe gilt für $\varphi_3$ und $\varphi_4$. - -Die nichtleeren Schnittmengen der verschiedenen Kartengebiete beschreiben -jeweils die Punkte der Kreislinie in einem Quadranten. -Die Umrechnung zwischen den Koordinaten und ihre Ableitung -ist je nach Quadrant durch -\begin{align*} -&\text{1.~Quadrant}& -\varphi_{31} -&= -\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-y^2\mathstrut} -& -D\varphi_{31} -&= --\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} -\\ -&\text{2.~Quadrant}& -\varphi_{24} -&= -\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-x^2\mathstrut} -& -D\varphi_{24} -&= --\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} -\\ -&\text{3.~Quadrant}& -\varphi_{42} -&= -\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto-\sqrt{1-y^2\mathstrut} -& -D\varphi_{42} -&= -\phantom{-}\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} -\\ -&\text{4.~Quadrant}& -\varphi_{14} -&= -\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto-\sqrt{1-x^2\mathstrut} -& -D\varphi_{14} -&= -\phantom{-}\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} -\end{align*} -gegeben. -Diese Abbildungen sind im offenen Intervall $(-1,1)$ differenzierbar, -Schwierigkeiten mit der Ableitungen ergeben sich nur an den Stellen -$x=\pm1$ und $y=\pm 1$, die in einem Überschneidungsgebiet von Karten -nicht vorkommen können. -Somit bilden die vier Karten einen differenzierbaren Atlas für -die Kreislinie (Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis}). -\end{beispiel} - -\begin{beispiel} -Ganz analog zum vorangegangenen Beispiel über die Kreisline lässt sich -für eine $n$-di\-men\-sio\-nale Sphäre -\[ -S^n = \{ (x_1,\dots,x_{n+1})\;|\; x_0^2+\dots+x_n^2=1\} -\] -immer ein Atlas aus $2^{n+1}$ Karten mit den Koordinatenabbildungen -\[ -\varphi_{i,\pm} -\colon -U_{i,\pm} -= -\{p\in S^n\;|\; \pm x_i >0\} -\to -\mathbb{R}^n -: -p\mapsto (x_1,\dots,\hat{x}_i,\dots,x_{n+1}) -\] -konstruieren, der $S^n$ zu einer $n$-dimensionalen Mannigfaltigkeit macht. -\end{beispiel} - -\subsubsection{Tangentialraum} -Mit Hilfe einer Karte $\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to\mathbb{R}^n$ -kann das Geschehen in einer Mannigfaltigkeit in den vertrauten -$n$-dimensionalen Raum $\mathbb{B}^n$ transportiert werden. -Eine Kurve $\gamma\colon \mathbb{R}\to M$, die so parametrisiert sein -soll, dass $\gamma(t)\in U_\alpha$ für $t$ in einer Umgebung $I$ von $0$ ist, -wird von der Karte in eine Kurve -$\gamma_\alpha=\varphi_\alpha\circ\gamma\colon I\to \mathbb{R}^n$ -abgebildet, -deren Tangentialvektor wieder ein Vektor in $\mathbb{R}^n$ ist. - -Eine zweite Karte $\varphi_\beta$ führt auf eine andere Kurve -mit der Parametrisierung -$\gamma_\beta=\varphi_\beta\circ\gamma\colon I \to \mathbb{R}^n$ -und einem anderen Tangentialvektor. -Die beiden Tangentialvektoren können aber mit der Ableitung der -Koordinatenwechsel-Abbildung -$\varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}\colon -\varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta)\to \mathbb{R}^n$ -ineinander umgerechnet werden. -Aus -\[ -\gamma_\beta -= -\varphi_\beta\circ \gamma -= -( -\varphi_\beta -\circ -\varphi_\alpha^{-1} -) -\circ -\varphi_\alpha\circ\gamma -= -\varphi_{\beta\alpha} -\circ -\varphi_\alpha\circ\gamma -= -\varphi_{\beta\alpha}\circ\gamma_\alpha -\] -folgt durch Ableitung nach dem Kurvenparameter $t$, dass -\[ -\frac{d}{dt}\gamma_\beta(t) -= -D\varphi_{\beta\alpha} -\cdot -\frac{d}{dt}\gamma_\alpha(t). -\] -Die Ableitung $D\varphi_{\beta\alpha}$ von $\varphi_{\beta\alpha}$ -an der Stelle $\gamma_\alpha(t)$ berechnet also aus dem Tangentialvektor -einer Kurve in der Karte $\varphi_\alpha$ den Tangentialvektor der -Kurve in der Karte $\varphi_\beta$. - -Die Forderung nach Differenzierbarkeit der Kartenwechselabbildungen -$\varphi_{\beta\alpha}$ stellt also nur sicher, dass die Beschreibung -eines Systemes mit Differentialgleichungen in verschiedenen -Koordinatensystemen auf die gleichen Lösungskurven in der -Mannigfaltigkeit führt. -Insbesondere ist die Verwendung von Karten ist also nur ein Werkzeug, -mit dem die Unmöglichkeit einer globalen Besschreibung einer -Mannigfaltigkeit $M$ mit einem einzigen globalen Koordinatensystem -ohne Singularitäten umgangen werden kann. - -\begin{beispiel} -Das Beispiel des Kreises in Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis} -zeigt, dass die Tangentialvektoren je nach Karte sehr verschieden -aussehen können. -Der Tangentialvektor der Kurve $\gamma(t) = (x(t), y(t))$ im Punkt -$\gamma(t)$ ist $\dot{y}(t)$ in den Karten $\varphi_1$ und $\varphi_2$ -und $\dot{x}(t)$ in den Karten $\varphi_3$ und $\varphi_4$. - -Die spezielle Kurve $\gamma(t) = (\cos t,\sin t)$ hat in einem Punkt -$t\in (0,\frac{\pi}2)$. -in der Karte $\varphi_1$ den Tangentialvektor $\dot{y}(t)=\cos t$, -in der Karte $\varphi_3$ aber den Tangentialvektor $\dot{x}=-\sin t$. -Die Ableitung des Kartenwechsels in diesem Punkt ist die $1\times 1$-Matrix -\[ -D\varphi_{31}(\gamma(t)) -= --\frac{y(t)}{\sqrt{1-y(t)^2}} -= --\frac{\sin t}{\sqrt{1-\sin^2 t}} -= --\frac{\sin t}{\cos t} -= --\tan t. -\] -Die Koordinatenumrechnung ist gegeben durch -\[ -\dot{x}(t) -= -D\varphi_{31}(\gamma(t)) -\dot{y}(t) -\] -wird für die spezielle Kurve $\gamma(t)=(\cos t,\sin t)$ wird dies zu -\[ -D\varphi_{31}(\gamma(t)) -\cdot -\dot{y}(t) -= --\tan t\cdot \cos t -= --\frac{\sin t}{\cos t}\cdot \cos t -= --\sin t -= -\dot{x}(t). -\qedhere -\] -\end{beispiel} - -Betrachtet man die Kreislinie als Kurve in $\mathbb{R}^2$, -dann ist der Tangentialvektor durch -$\dot{\gamma}(t)=(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ gegeben. -Da die Karten Projektionen auf die $x$- bzw.~$y$-Achsen sind, -entsteht der Tangentialvektor in der Karte durch Projektion -von $(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ auf die entsprechende Komponente. - -Die Tangentialvektoren in zwei verschiedenen Punkten der Kurve können -im Allgemeinen nicht miteinander verglichen werden. -Darüber hinweg hilft auch die Tatsache nicht, dass die Kreislinie -in den Vektorraum $\mathbb{R}^2$ eingebettet sind, wo sich Vektoren -durch Translation miteinander vergleichen lassen. -Ein nichtverschwindender Tangentialvektor im Punkt $(1,0)$ hat, -betrachtet als Vektor in $\mathbb{R}^2$ verschwindende $x$-Komponente, -für Tangentialvektoren im Inneren eines Quadranten ist dies nicht -der Fall. - -Eine Möglichkeit, einen Tangentialvektor in $(1,0)$ mit einem -Tangentialvektor im Punkt $(\cos t,\sin t)$ zu vergleichen, besteht -darin, den Vektor um den Winkel $t$ zu drehen. -Dies ist möglich, weil die Kreislinie eine kontinuierliche Symmetrie, -nämlich die Drehung um den Winkel $t$ hat, die es erlaubt, den Punkt $(1,0)$ -in den Punkt $(\cos t,\sin t)$ abzubilden. -Erst diese Symmetrie ermöglicht den Vergleich. -Dieser Ansatz ist für alle Matrizen erfolgreich, wie wir später sehen werden. - -Ein weiterer Ansatz, Tangentialvektoren zu vergleichen, ist die Idee, -einen sogenannten Zusammenhang zu definieren, eine Vorschrift, wie -Tangentialvektoren infinitesimal entlang von Kurven in der Mannigfaltigkeit -transportiert werden können. -Auf einer sogenannten {\em Riemannschen Mannigfaltigkeit} ist zusätzlich -zur Mannigfaltigkeitsstruktur die Längenmessung definiert. -Sie kann dazu verwendet werden, den Transport von Vektoren entlang einer -Kurve so zu definieren, dass dabei Längen und Winkel erhalten bleiben. -Dieser Ansatz ist die Basis der Theorie der Krümmung sogenannter -Riemannscher Mannigfaltigkeiten. - -\subsection{Der Satz von Noether -\label{buch:subsection:noether}} - - - - - - - +% +% symmetrien.tex -- Geometrische Beschreibung von Symmetrien, O(n), SO(n), +% Spiegelungen +% +% (c) 2020 Prof Dr Andreas Müller, Hochschule Rapperswil +% +\section{Symmetrien +\label{buch:section:symmetrien}} +\rhead{Symmetrien} +Der geometrische Begriff der Symmetrie meint die Eigenschaft eines +geometrischen Objektes, dass es bei einer Bewegung auf sich selbst +abgebildet wird. +Das Wort stammt aus dem altgriechischen, wo es {\em Gleichmass} +bedeutet. +Spiegelsymmetrische Objekte zeichnen sich zum Beispiel dadurch aus, +dass Messungen von Strecken die gleichen Werte ergeben wie die Messungen +der entsprechenden gespiegelten Strecken (siehe auch +Abbildung~\ref{buch:lie:bild:castlehoward}, was die Herkunft des +Begriffs verständlich macht. +\begin{figure} +\centering +\includegraphics[width=\textwidth]{chapters/60-gruppen/images/castle.jpeg} +\caption{Das Castle Howard in Yorkshire war in dieser ausgeprägt symmetrischen +Form geplant, wurde dann aber in modifizeirter Form gebaut. +Messungen zwischen Punkten in der rechten Hälfte des Bildes +ergeben die gleichen Werte wie Messungen entsprechenden Strecken +in der linken Hälfte, was den Begriff Symmetrie rechtfertigt. +\label{buch:lie:bild:castlehoward}} +\end{figure} +In der Physik wird dem Begriff der Symmetrie daher auch eine erweiterte +Bedeutung gegeben. +Jede Transformation eines Systems, welche bestimmte Grössen nicht +verändert, wird als Symmetrie bezeichnet. +Die Gesetze der Physik sind typischerweise unabhängig davon, wo man den +den Nullpunkt der Zeit oder das räumlichen Koordinatensystems ansetzt, +eine Transformation des Zeitnullpunktes oder des Ursprungs des +Koordinatensystems ändert daher die Bewegungsgleichungen nicht, sie ist +eine Symmetrie des Systems. + +Umgekehrt kann man fragen, welche Symmetrien ein System hat. +Da sich Symmetrien zusammensetzen und umkehren lassen, kann man in davon +ausgehen, dass die Symmetrietransformationen eine Gruppe bilden. +Besonders interessant ist dies im Falle von Transformationen, die +durch Matrizen beschrieben weren. +Eine unter der Symmetrie erhaltene Eigenschaft definiert so eine +Untergruppe der Gruppe $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ der +invertierbaren Matrizen. +Die erhaltenen Eigenschaften definieren eine Menge von Gleichungen, +denen die Elemente der Untergruppe genügen müssen. +Als Lösungsmenge einer Gleichung erhält die Untergruppe damit eine +zusätzliche geometrische Struktur, man nennt sie eine differenzierbare +Mannigfaltigkeit. +Dieser Begriff wird im Abschnitt~\ref{buch:subsection:mannigfaltigkeit} +eingeführt. +Es wird sich zum Beispiel zeigen, dass die Menge der Drehungen der +Ebene mit den Punkten eines Kreises parametrisieren lassen, +die Lösungen der Gleichung $x^2+y^2=1$ sind. + +Eine Lie-Gruppe ist eine Gruppe, die gleichzeitig eine differenzierbare +Mannigfaltigkeit ist. +Die Existenz von geometrischen Konzepten wie Tangentialvektoren +ermöglicht zusätzliche Werkzeuge, mit denen diese Gruppe untersucht +und verstanden werden können. +Ziel dieses Abschnitts ist, die Grundlagen für diese Untersuchung zu +schaffen, die dann im Abschnitt~\ref{buch:section:lie-algebren} +durchgeführt werden soll. + +\subsection{Algebraische Symmetrien +\label{buch:subsection:algebraische-symmetrien}} +Mit Matrizen lassen sich Symmetrien in einem geometrischen Problem +oder in einem physikalischen System beschreiben. +Man denkt dabei gerne zuerst an geometrische Symmetrien wie die +Symmetrie unter Punktspiegelung oder die Spiegelung an der $x_1$-$x_2$-Ebene, +wie sie zum Beispiel durch die Abbildungen +\[ +\mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : x\mapsto -x +\qquad\text{oder}\qquad +\mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : +\begin{pmatrix}x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} +\mapsto +\begin{pmatrix}-x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} +\] +dargestellt werden. +Beide haben zunächst die Eigenschaft, dass Längen und Winkel und damit +das Skalarprodukt erhalten sind. +Diese Eigenschaft allein erlaubt aber noch nicht, die beiden Transformationen +zu unterscheiden. +Die Punktspiegelung zeichnet sich dadurch aus, das alle Geraden und alle +Ebenen durch den Ursprung auf sich selbst abgebildet werden. +Dies funktioniert für die Ebenenspiegelung nicht, dort bleibt nur die +Spiegelungsebene (die $x_1$-$x_2$-Ebene im vorliegenden Fall) und +ihre Normale erhalten. +Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie solche Symmetriedefinitionen +auf algebraische Bedingungen an die Matrixelemente führen. + +Zu jeder Abbildung $f\colon\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$, unter der +ein geometrisches Objekt in $\mathbb{R}^n$ symmetrisch ist, können wir +sofort weitere Abbildungen angeben, die ebenfalls Symmetrien sind. +Zum Beispiel sind die iterierten Abbildungen $f\circ f$, $f\circ f\circ f$ +u.~s.~w., die wir auch $f^n$ mit $n\in\mathbb{N}$ schreiben werden, +ebenfalls Symmetrien. +Wenn die Symmetrie auch umkehrbar ist, dann gilt dies sogar für alle +$n\in\mathbb{Z}$. +Wir erhalten so eine Abbildung +$\varphi\colon \mathbb{Z}\to \operatorname{GL}_n(\mathbb{R}):n\mapsto f^n$ +mit den Eigenschaften $\varphi(0)=f^0 = I$ und +$\varphi(n+m)=f^{n+m}=f^n\circ f^m = \varphi(n)\circ\varphi(m)$. +$\varphi$ ist ein Homomorphismus der Gruppe $\mathbb{Z}$ in die Gruppe +$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. +Wir nennen dies eine {\em diskrete Symmetrie}. + +\subsection{Kontinuierliche Symmetrien +\label{buch:subsection:kontinuierliche-symmetrien}} +Von besonderem Interesse sind kontinuierliche Symmetrien. +Dies sind Abbildungen eines Systems, die von einem Parameter +abhängen. +Zum Beispiel können wir Drehungen der Ebene $\mathbb{R}^2$ um den +Winkel $\alpha$ durch Matrizen +\[ +D_{\alpha} += +\begin{pmatrix} +\cos\alpha&-\sin\alpha\\ +\sin\alpha& \cos\alpha +\end{pmatrix} +\] +beschrieben werden. +Ein Kreis um den Nullpunkt bleibt unter jeder dieser Drehungen invariant. +Im Gegensatz dazu sind alle $3n$-Ecke mit Schwerpunkt $0$ nur invariant +unter der einen Drehung $D_{\frac{2\pi}3}$ invariant. +Die kleinste Menge, die einen vorgegebenen Punkt enthält und unter +allen Drehungen $D_\alpha$ invariant ist, ist immer ein Kreis um +den Nullpunkt. + +\begin{definition} +Ein Homomorphismus $\varphi\colon\mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ +von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in die allgemeine lineare Gruppe +heisst eine {\em Einparameter-Untergruppe} von +$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. +\end{definition} + +Die Abbildung +\[ +\varphi +\colon +\mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R}) +: +\alpha \mapsto +D_{\alpha} += +\begin{pmatrix} +\cos\alpha&-\sin\alpha\\ +\sin\alpha& \cos\alpha +\end{pmatrix} +\] +ist also eine Einparameter-Untergruppe von $\operatorname{GL}_2(\mathbb{R})$. + +\subsubsection{Der harmonische Oszillator} +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/phasenraum.pdf} +\caption{Die Lösungen der +Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} +im Phasenraum sind Ellipsen mit Halbachsenverhältnis $\omega^{-1}$. +\label{chapter:gruppen:fig:phasenraum}} +\end{figure} +Eine Masse $m$ verbunden mit einer Feder mit der Federkonstanten $K$ +schwingt um die Ruhelage $x=0$ entsprechend der Differentialgleichung +\[ +m\frac{d^2}{dt^2} x(t) = -Kx(t). +\] +Die Kreisfrequenz der Schwingung ist +\[ +\omega = \sqrt{\frac{K}{m}}. +\] +Das System kann als zweidimensionales System im Phasenraum mit den +Koordinaten $x_1=x$ und $x_2=p=m\dot{x}$ beschrieben werden. +Die zweidimensionale Differentialgleichung ist +\begin{equation} +\left. +\begin{aligned} +\dot{x}(t) &= \frac{1}{m}p(t)\\ +\dot{p}(t) &= -Kx(t) +\end{aligned} +\quad +\right\} +\qquad\Rightarrow\qquad +\frac{d}{dt} +\begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix} += +\begin{pmatrix} +0&\frac{1}{m}\\ +-K&0 +\end{pmatrix} +\begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix}. +\label{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} +\end{equation} +Die Lösung der Differentialgleichung für die Anfangsbedingung $x(0)=1$ und +$p(0)=0$ ist +\[ +x(t) += +\cos \omega t +\qquad\Rightarrow\qquad +p(t) += +-\omega \sin\omega t, +\] +die Lösung zur Anfangsbedingung $x(0)=0$ und $p(0)=1$ ist +\[ +x(t) = \frac{1}{\omega} \sin\omega t, +\qquad +p(t) = \cos \omega t. +\] +In Matrixform kann man die allgemeine Lösung zur Anfangsbedingun $x(0)=x_0$ +und $p(0)=p_0$ +\begin{equation} +\begin{pmatrix} +x(t)\\ +p(t) +\end{pmatrix} += +\underbrace{ +\begin{pmatrix} + \cos \omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ +-\omega \sin\omega t & \cos\omega t +\end{pmatrix} +}_{\displaystyle =\Phi_t} +\begin{pmatrix}x_0\\p_0\end{pmatrix} +\label{buch:gruppen:eqn:phi} +\end{equation} +schreiben. +Die Matrizen $\Phi_t$ bilden eine Einparameter-Untergruppe von +$\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$, da +\begin{align*} +\Phi_s\Phi_t +&= +\begin{pmatrix} + \cos\omega s & \frac{1}{\omega} \sin\omega s \\ +-\omega \sin\omega s & \cos\omega s +\end{pmatrix} +\begin{pmatrix} + \cos\omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ +-\omega \sin\omega t & \cos\omega t +\end{pmatrix} +\\ +&= +\begin{pmatrix} +\cos\omega s \cos\omega t - \sin\omega s \sin\omega t +& \frac{1}{\omega} ( \cos\omega s \sin\omega t + \sin\omega s \cos \omega t) +\\ +-\omega (\sin\omega s \cos\omega t + \cos\omega s \sin\omega t ) +& \cos\omega s \cos\omega t -\sin\omega s \sin\omega t +\end{pmatrix} +\\ +&= +\begin{pmatrix} + \cos\omega(s+t) & \frac{1}{\omega}\sin\omega(s+t) \\ +-\omega \sin\omega(s+t) & \cos\omega(s+t) +\end{pmatrix} += +\Phi_{s+t} +\end{align*} +gilt. +Die Lösungen der +Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} +sind in Abbildung~\ref{chapter:gruppen:fig:phasenraum} +Die Matrizen $\Phi_t$ beschreiben eine kontinuierliche Symmetrie +des Differentialgleichungssystems, welches den harmonischen Oszillator +beschreibt. + +\subsubsection{Fluss einer Differentialgleichung} +Die Abbildungen $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} sind jeweils +Matrizen in $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. +Der Grund dafür ist, dass die +Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} +linear ist. +Dies hat zur Folge, dass für zwei Anfangsbedingungen $x_1,x_2\in\mathbb{R}^2$ +die Lösung für Linearkombinationen $\lambda x_1+\mu x_2$ durch +Linearkombination der Lösungen erhalten werden kann, also +aus der Formel +\[ +\Phi_t (\lambda x_1 + \mu x_2) = \lambda \Phi_t x_1 + \mu \Phi_t x_2. +\] +Dies zeigt, dass $\Phi_t$ für jedes $t$ eine lineare Abbildung sein muss. + +Für eine beliebige Differentialgleichung kann man immer noch eine Abbildung +$\Phi$ konstruieren, die aber nicht mehr linear ist. +Sei dazu die Differentialgleichung erster Ordnung +\begin{equation} +\frac{dx}{dt} += +f(t,x) +\qquad\text{mit}\qquad +f\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n +\label{buch:gruppen:eqn:dgl} +\end{equation} +gegeben. +Für jeden Anfangswert $x_0\in\mathbb{R}^n$ kann man mindestens für eine +gewisse Zeit $t <\varepsilon$ eine Lösung $x(t,x_0)$ finden mit $x(t,x_0)=x_0$. +Aus der Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen ist auch +bekannt, dass $x(t,x_0)$ mindestens in der Nähe von $x_0$ differenzierbar von +$x_0$ abhängt. +Dies erlaubt eine Abbildung +\[ +\Phi\colon \mathbb{R}\times \mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n +: +(t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) = x(t,x_0) +\] +zu definieren, die sowohl von $t$ als auch von $x_0$ differenzierbar +abhängt. +Aus der Definition folgt unmittelbar, dass $\Phi_0(x_0)=x_0$ ist, dass +also $\Phi_0$ die identische Abbildung von $\mathbb{R}^n$ ist. + +Aus der Definition lässt sich auch ableiten, dass +$\Phi_{s+t}=\Phi_s\circ\Phi_t$ gilt. +$\Phi_t(x_0)=x(t,x_0)$ ist der Endpunkt der Bahn, die bei $x_0$ beginnt +und sich während der Zeit $t$ entwickelt. +$\Phi_s(x(t,x_0))$ ist dann der Endpunkt der Bahn, die bei $x(t,x_0)$ +beginnt und sich während der Zeit $s$ entwickelt. +Somit ist $\Phi_s\circ \Phi_t(x_0)$ der Endpunkt der Bahn, die bei +$x_0$ beginnt und sich über die Zeit $s+t$ entwickelt. +In Formeln bedeutet dies +\[ +\Phi_{s+t} = \Phi_s\circ \Phi_t. +\] +Die Abbildung $t\mapsto \Phi_t$ ist also wieder ein Homomorphismus +von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in eine Gruppe von differenzierbaren +Abbildungen $\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$. + +\begin{definition} +Die Abbildung +\[ +\Phi\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n +: +(t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) = x(t,x_0) +\] +heisst der {\em Fluss} der Differentialgleichung +\eqref{buch:gruppen:eqn:dgl}, +wenn für jedes $x_0\in\mathbb{R}^n$ die Kurve $t\mapsto \Phi_t(x_0)$ +eine Lösung der Differentialgleichung ist mit Anfangsbedingung $x_0$. +\end{definition} + +Die Abbildung $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} ist also +der Fluss der Differentialgleichung des harmonischen Oszillators. + +\subsection{Mannigfaltigkeiten +\label{buch:subsection:mannigfaltigkeit}} +Eine Differentialgleichung der Form~\eqref{buch:gruppen:eqn:dgl} +stellt einen Zusammenhang her zwischen einem Punkt $x$ und der +Tangentialrichtung einer Bahnkurve $f(t,x)$. +Die Ableitung liefert die lineare Näherung der Bahkurve +\[ +x(t_0+h) = x(t_0) + h f(t_0,x_0) + o(h) +\] +für $h$ in einer kleinen Umgebung von $0$. +Das funktioniert auch, weil $f(t_0,x_0)$ selbst ein Vektor von +$\mathbb{R}^n$ ist, in dem die Bahnkurve verläuft. + +Diese Idee funktioniert nicht mehr zum Beispiel für eine +Differentialgleichung auf einer Kugeloberfläche, weil alle Punkte +$x(t_0)+hf(t_0,x_0)$ für alle $h\ne 0$ nicht mehr auf der Kugeloberfläche +liegen. +Physikalisch äussert sich das ein einer zusätzlichen Kraft, die nötig +ist, die Bahn auf der Kugeloberfläche zu halten. +Diese Kraft stellt zum Beispiel sicher, dass die Vektoren $f(t,x)$ für +Punkte $x$ auf der Kugeloberfläche immer tangential an die Kugel sind. +Trotzdem ist der Tangentialvektor oder der Geschwindigkeitsvektor +nicht mehr ein Objekt, welches als Teil der Kugeloberfläche definiert +werden kann, er kann nur definiert werden, wenn man sich die Kugel als +in einen höherdimensionalen Raum eingebettet vorstellen kann. + +Um die Idee der Differentialgleichung auf einer beliebigen Fläche +konsistent zu machen ist daher notwendig, die Idee einer Tagentialrichtung +auf eine Art zu definieren, die nicht von der Einbettung der Fläche +in den $n$-dimensionalen Raum abhängig ist. +Das in diesem Abschnitt entwickelte Konzept der {\em Mannigfaltigkeit} +löst dieses Problem. + +\subsubsection{Karten} +Die Navigation auf der Erdoberfläche verwendet das Koordinatensystem +der geographischen Länge und Breite. +Dieses Koordinatensystem funktioniert gut, solange man sich nicht an +den geographischen Polen befindet, denn deren Koordinaten sind +nicht mehr eindeutig. +Alle Punkte mit geographischer Breite $90^\circ$ und beliebiger +geographischer Länge beschreiben den Nordpol. +Auch die Ableitung funktioniert dort nicht mehr. +Bewegt man sich mit konstanter Geschwindigkeit über den Nordpol, +springt die Ableitung der geographischen Breite von einem positiven +Wert auf einen negativen Wert, sie kann also nicht differenzierbar sein. +Diese Einschränkungen sind in der Praxis nur ein geringes Problem dar, +da die meisten Reisen nicht über die Pole erfolgen. + +Der Polarforscher, der in unmittelbarer Umgebung des Poles arbeitet, +kann das Problem lösen, indem er eine lokale Karte für das Gebiet +um den Pol erstellt. +Dafür kann er beliebige Koordinaten verwenden, zum Beispiel auch +ein kartesisches Koordinatensystem, er muss nur eine Methode haben, +wie er seine Koordinaten wieder auf geographische Länge und Breite +umrechnen will. +Und wenn er über Geschwindigkeiten kommunizieren will, dann muss +er auch Ableitungen von Kurven in seinem kartesischen Koordinatensystem +umrechnen können auf die Kugelkoordinaten. +Dazu muss seine Umrechnungsformel von kartesischen Koordinaten +auf Kugelkoordinaten differenzierbar sein. + +Diese Idee wird durch das Konzept der Mannigfaltigkeit verallgemeinert. +Eine $n$-dimensionale {\em Mannigfaltigkeit} ist eine Menge $M$ von Punkten, +die lokal, also in der Umgebung eines Punktes, mit möglicherweise mehreren +verschiedenen Koordinatensystemen versehen werden kann. +Ein Koordinatensystem ist eine umkehrbare Abbildung einer offenen Teilmenge +$U\subset M$ in den Raum $\mathbb{R}^n$. +Die Komponenten dieser Abbildung heissen die {\em Koordinaten}. + +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/karten.pdf} +\caption{Karten +$\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to \mathbb{R}^2$ +und +$\varphi_\beta\colon U_\beta\to \mathbb{R}^2$ +auf einem Torus. +Auf dem Überschneidungsgebiet $\varphi_\alpha^{-1}(U_\alpha\cap U_\beta)$ +ist der Kartenwechsel $\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}$ wohldefiniert +und muss differnzierbar sein, wenn eine differenzierbare Mannigfaltigkeit +entstehen soll. +\label{buch:gruppen:fig:karten}} +\end{figure} + +\begin{definition} +Eine Karte auf $M$ ist eine umkehrbare Abbildung +$\varphi\colon U\to \mathbb{R}^n$ (siehe auch +Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:karten}). +Ein differenzierbarer Atlas ist eine Familie von Karten $\varphi_\alpha$ +derart, dass die Definitionsgebiete $U_\alpha$ die ganze Menge $M$ +überdecken, und dass die Kartenwechsel Abbildungen +\[ +\varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1} +\colon +\varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta) +\to +\varphi_\beta(U_\alpha\cap U_\beta) +\] +als Abbildung von offenen Teilmengen von $\mathbb{R}^n$ differenzierbar +ist. +Eine {$n$-dimensionale differenzierbare Mannigfaltigkeit} ist eine +Menge $M$ mit einem differenzierbaren Atlas. +\end{definition} + +Karten und Atlanten regeln also nur, wie sich verschiedene lokale +Koordinatensysteme ineinander umrechnen lassen. + +\begin{beispiel} +$M=\mathbb{R}^n$ ist eine differenzierbare Mannigfaltigkeit denn +die identische Abbildung $M\to \mathbb{R}^n$ ist eine Karte und ein +Atlas von $M$. +\end{beispiel} + +\begin{beispiel} +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/60-gruppen/images/kartenkreis.pdf} +\caption{Karten für die Kreislinie $S^1\subset\mathbb{R}^2$. +\label{buch:gruppen:fig:kartenkreis}} +\end{figure} +Die Kreislinie in in der Ebene ist eine $1$-dimensionale Mannigfaltigkeit. +Natürlich kann sie nicht mit einer einzigen Karte beschrieben werden, +da es keine umkehrbaren Abbildungen zwischen $\mathbb{R}$ und der Kreislinie +gibt. +Die Projektionen auf die einzelnen Koordinaten liefern die folgenden +vier Karten: +\begin{align*} +\varphi_1&\colon U_{x>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x>0\} \to\mathbb{R} +: +(x,y) \mapsto y +\\ +\varphi_2&\colon U_{x<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x<0\} \to\mathbb{R} +: +(x,y) \mapsto y +\\ +\varphi_3&\colon U_{y>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y>0\} \to\mathbb{R} +: +(x,y) \mapsto x +\\ +\varphi_4&\colon U_{y<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y<0\} \to\mathbb{R} +: +(x,y) \mapsto x +\end{align*} +Die Werte der Kartenabbildungen sind genau die $x$- und $y$-Koordinaten +auf der in den Raum $\mathbb{R}^2$ eingebetteten Kreislinie. + +Für $\varphi_1$ und $\varphi_2$ sind die Definitionsgebiete disjunkt, +hier gibt es also keine Notwendigkeit, Koordinatenumrechnungen vornehmen +zu können. +Dasselbe gilt für $\varphi_3$ und $\varphi_4$. + +Die nichtleeren Schnittmengen der verschiedenen Kartengebiete beschreiben +jeweils die Punkte der Kreislinie in einem Quadranten. +Die Umrechnung zwischen den Koordinaten und ihre Ableitung +ist je nach Quadrant durch +\begin{align*} +&\text{1.~Quadrant}& +\varphi_{31} +&= +\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-y^2\mathstrut} +& +D\varphi_{31} +&= +-\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} +\\ +&\text{2.~Quadrant}& +\varphi_{24} +&= +\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-x^2\mathstrut} +& +D\varphi_{24} +&= +-\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} +\\ +&\text{3.~Quadrant}& +\varphi_{42} +&= +\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto-\sqrt{1-y^2\mathstrut} +& +D\varphi_{42} +&= +\phantom{-}\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} +\\ +&\text{4.~Quadrant}& +\varphi_{14} +&= +\varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto-\sqrt{1-x^2\mathstrut} +& +D\varphi_{14} +&= +\phantom{-}\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} +\end{align*} +gegeben. +Diese Abbildungen sind im offenen Intervall $(-1,1)$ differenzierbar, +Schwierigkeiten mit der Ableitungen ergeben sich nur an den Stellen +$x=\pm1$ und $y=\pm 1$, die in einem Überschneidungsgebiet von Karten +nicht vorkommen können. +Somit bilden die vier Karten einen differenzierbaren Atlas für +die Kreislinie (Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis}). +\end{beispiel} + +\begin{beispiel} +Ganz analog zum vorangegangenen Beispiel über die Kreisline lässt sich +für eine $n$-di\-men\-sio\-nale Sphäre +\[ +S^n = \{ (x_1,\dots,x_{n+1})\;|\; x_0^2+\dots+x_n^2=1\} +\] +immer ein Atlas aus $2^{n+1}$ Karten mit den Koordinatenabbildungen +\[ +\varphi_{i,\pm} +\colon +U_{i,\pm} += +\{p\in S^n\;|\; \pm x_i >0\} +\to +\mathbb{R}^n +: +p\mapsto (x_1,\dots,\hat{x}_i,\dots,x_{n+1}) +\] +konstruieren, der $S^n$ zu einer $n$-dimensionalen Mannigfaltigkeit macht. +\end{beispiel} + +\subsubsection{Tangentialraum} +Mit Hilfe einer Karte $\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to\mathbb{R}^n$ +kann das Geschehen in einer Mannigfaltigkeit in den vertrauten +$n$-dimensionalen Raum $\mathbb{B}^n$ transportiert werden. +Eine Kurve $\gamma\colon \mathbb{R}\to M$, die so parametrisiert sein +soll, dass $\gamma(t)\in U_\alpha$ für $t$ in einer Umgebung $I$ von $0$ ist, +wird von der Karte in eine Kurve +$\gamma_\alpha=\varphi_\alpha\circ\gamma\colon I\to \mathbb{R}^n$ +abgebildet, +deren Tangentialvektor wieder ein Vektor in $\mathbb{R}^n$ ist. + +Eine zweite Karte $\varphi_\beta$ führt auf eine andere Kurve +mit der Parametrisierung +$\gamma_\beta=\varphi_\beta\circ\gamma\colon I \to \mathbb{R}^n$ +und einem anderen Tangentialvektor. +Die beiden Tangentialvektoren können aber mit der Ableitung der +Koordinatenwechsel-Abbildung +$\varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}\colon +\varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta)\to \mathbb{R}^n$ +ineinander umgerechnet werden. +Aus +\[ +\gamma_\beta += +\varphi_\beta\circ \gamma += +( +\varphi_\beta +\circ +\varphi_\alpha^{-1} +) +\circ +\varphi_\alpha\circ\gamma += +\varphi_{\beta\alpha} +\circ +\varphi_\alpha\circ\gamma += +\varphi_{\beta\alpha}\circ\gamma_\alpha +\] +folgt durch Ableitung nach dem Kurvenparameter $t$, dass +\[ +\frac{d}{dt}\gamma_\beta(t) += +D\varphi_{\beta\alpha} +\cdot +\frac{d}{dt}\gamma_\alpha(t). +\] +Die Ableitung $D\varphi_{\beta\alpha}$ von $\varphi_{\beta\alpha}$ +an der Stelle $\gamma_\alpha(t)$ berechnet also aus dem Tangentialvektor +einer Kurve in der Karte $\varphi_\alpha$ den Tangentialvektor der +Kurve in der Karte $\varphi_\beta$. + +Die Forderung nach Differenzierbarkeit der Kartenwechselabbildungen +$\varphi_{\beta\alpha}$ stellt also nur sicher, dass die Beschreibung +eines Systemes mit Differentialgleichungen in verschiedenen +Koordinatensystemen auf die gleichen Lösungskurven in der +Mannigfaltigkeit führt. +Insbesondere ist die Verwendung von Karten ist also nur ein Werkzeug, +mit dem die Unmöglichkeit einer globalen Besschreibung einer +Mannigfaltigkeit $M$ mit einem einzigen globalen Koordinatensystem +ohne Singularitäten umgangen werden kann. + +\begin{beispiel} +Das Beispiel des Kreises in Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis} +zeigt, dass die Tangentialvektoren je nach Karte sehr verschieden +aussehen können. +Der Tangentialvektor der Kurve $\gamma(t) = (x(t), y(t))$ im Punkt +$\gamma(t)$ ist $\dot{y}(t)$ in den Karten $\varphi_1$ und $\varphi_2$ +und $\dot{x}(t)$ in den Karten $\varphi_3$ und $\varphi_4$. + +Die spezielle Kurve $\gamma(t) = (\cos t,\sin t)$ hat in einem Punkt +$t\in (0,\frac{\pi}2)$. +in der Karte $\varphi_1$ den Tangentialvektor $\dot{y}(t)=\cos t$, +in der Karte $\varphi_3$ aber den Tangentialvektor $\dot{x}=-\sin t$. +Die Ableitung des Kartenwechsels in diesem Punkt ist die $1\times 1$-Matrix +\[ +D\varphi_{31}(\gamma(t)) += +-\frac{y(t)}{\sqrt{1-y(t)^2}} += +-\frac{\sin t}{\sqrt{1-\sin^2 t}} += +-\frac{\sin t}{\cos t} += +-\tan t. +\] +Die Koordinatenumrechnung ist gegeben durch +\[ +\dot{x}(t) += +D\varphi_{31}(\gamma(t)) +\dot{y}(t) +\] +wird für die spezielle Kurve $\gamma(t)=(\cos t,\sin t)$ wird dies zu +\[ +D\varphi_{31}(\gamma(t)) +\cdot +\dot{y}(t) += +-\tan t\cdot \cos t += +-\frac{\sin t}{\cos t}\cdot \cos t += +-\sin t += +\dot{x}(t). +\qedhere +\] +\end{beispiel} + +Betrachtet man die Kreislinie als Kurve in $\mathbb{R}^2$, +dann ist der Tangentialvektor durch +$\dot{\gamma}(t)=(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ gegeben. +Da die Karten Projektionen auf die $x$- bzw.~$y$-Achsen sind, +entsteht der Tangentialvektor in der Karte durch Projektion +von $(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ auf die entsprechende Komponente. + +Die Tangentialvektoren in zwei verschiedenen Punkten der Kurve können +im Allgemeinen nicht miteinander verglichen werden. +Darüber hinweg hilft auch die Tatsache nicht, dass die Kreislinie +in den Vektorraum $\mathbb{R}^2$ eingebettet sind, wo sich Vektoren +durch Translation miteinander vergleichen lassen. +Ein nichtverschwindender Tangentialvektor im Punkt $(1,0)$ hat, +betrachtet als Vektor in $\mathbb{R}^2$ verschwindende $x$-Komponente, +für Tangentialvektoren im Inneren eines Quadranten ist dies nicht +der Fall. + +Eine Möglichkeit, einen Tangentialvektor in $(1,0)$ mit einem +Tangentialvektor im Punkt $(\cos t,\sin t)$ zu vergleichen, besteht +darin, den Vektor um den Winkel $t$ zu drehen. +Dies ist möglich, weil die Kreislinie eine kontinuierliche Symmetrie, +nämlich die Drehung um den Winkel $t$ hat, die es erlaubt, den Punkt $(1,0)$ +in den Punkt $(\cos t,\sin t)$ abzubilden. +Erst diese Symmetrie ermöglicht den Vergleich. +Dieser Ansatz ist für alle Matrizen erfolgreich, wie wir später sehen werden. + +Ein weiterer Ansatz, Tangentialvektoren zu vergleichen, ist die Idee, +einen sogenannten Zusammenhang zu definieren, eine Vorschrift, wie +Tangentialvektoren infinitesimal entlang von Kurven in der Mannigfaltigkeit +transportiert werden können. +Auf einer sogenannten {\em Riemannschen Mannigfaltigkeit} ist zusätzlich +zur Mannigfaltigkeitsstruktur die Längenmessung definiert. +Sie kann dazu verwendet werden, den Transport von Vektoren entlang einer +Kurve so zu definieren, dass dabei Längen und Winkel erhalten bleiben. +Dieser Ansatz ist die Basis der Theorie der Krümmung sogenannter +Riemannscher Mannigfaltigkeiten. + +\subsection{Der Satz von Noether +\label{buch:subsection:noether}} + + + + + + + -- cgit v1.2.1