% % symmetrien.tex -- Geometrische Beschreibung von Symmetrien, O(n), SO(n), % Spiegelungen % % (c) 2020 Prof Dr Andreas Müller, Hochschule Rapperswil % % !TeX spellcheck = de_CH \section{Symmetrien \label{buch:section:symmetrien}} \rhead{Symmetrien} Der geometrische Begriff der Symmetrie meint die Eigenschaft eines geometrischen Objektes, dass es bei einer Bewegung auf sich selbst abgebildet wird. Das Wort stammt aus dem altgriechischen, wo es {\em Gleichmass} bedeutet. Spiegelsymmetrische Objekte zeichnen sich zum Beispiel dadurch aus, dass Messungen von Strecken die gleichen Werte ergeben wie die Messungen der entsprechenden gespiegelten Strecken (siehe auch Abbildung~\ref{buch:lie:bild:castlehoward}), was die Herkunft des Begriffs verständlich macht. \begin{figure} \centering \includegraphics[width=\textwidth]{chapters/60-gruppen/images/castle.jpeg} \caption{Das Castle Howard in Yorkshire war in dieser ausgeprägt symmetrischen Form geplant, wurde dann aber in modifizierter Form gebaut. Messungen zwischen Punkten in der rechten Hälfte des Bildes ergeben die gleichen Werte wie Messungen entsprechenden Strecken in der linken Hälfte, was den Begriff Symmetrie rechtfertigt. \label{buch:lie:bild:castlehoward}} \end{figure} In der Physik wird dem Begriff der Symmetrie daher auch eine erweiterte Bedeutung gegeben. Jede Transformation eines Systems, welche bestimmte Grössen nicht verändert, wird als Symmetrie bezeichnet. Die Gesetze der Physik sind typischerweise unabhängig davon, wo man den Nullpunkt der Zeit oder des räumlichen Koordinatensystems ansetzt, eine Transformation des Zeitnullpunktes oder des Ursprungs des Koordinatensystems ändert daher die Bewegungsgleichungen nicht, sie ist eine Symmetrie des Systems. Umgekehrt kann man fragen, welche Symmetrien ein System hat. Da sich Symmetrien zusammensetzen und umkehren lassen, kann man in davon ausgehen, dass die Symmetrietransformationen eine Gruppe bilden. Besonders interessant ist dies im Falle von Transformationen, die durch Matrizen beschrieben weren. Eine unter der Symmetrie erhaltene Eigenschaft definiert so eine Untergruppe der Gruppe $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ der invertierbaren Matrizen. Die erhaltenen Eigenschaften definieren eine Menge von Gleichungen, denen die Elemente der Untergruppe genügen müssen. Als Lösungsmenge einer Gleichung erhält die Untergruppe damit eine zusätzliche geometrische Struktur, man nennt sie eine differenzierbare Mannigfaltigkeit. Dieser Begriff wird im Abschnitt~\ref{buch:subsection:mannigfaltigkeit} eingeführt. Es wird sich zum Beispiel zeigen, dass sich die Menge der Drehungen der Ebene mit den Punkten eines Kreises parametrisieren lässt, die Lösungen der Gleichung $x^2+y^2=1$ sind. Eine Lie-Gruppe ist eine Gruppe, die gleichzeitig eine differenzierbare Mannigfaltigkeit ist. Die Existenz von geometrischen Konzepten wie Tangentialvektoren ermöglicht zusätzliche Werkzeuge, mit denen diese Gruppe untersucht und verstanden werden können. Ziel dieses Abschnitts ist, die Grundlagen für diese Untersuchung zu schaffen, die dann im Abschnitt~\ref{buch:section:lie-algebren} durchgeführt werden soll. \subsection{Algebraische Symmetrien \label{buch:subsection:algebraische-symmetrien}} Mit Matrizen lassen sich Symmetrien in einem geometrischen Problem oder in einem physikalischen System beschreiben. Man denkt dabei gerne zuerst an geometrische Symmetrien wie die Symmetrie unter Punktspiegelung oder die Spiegelung an der $x_1$-$x_2$-Ebene, wie sie zum Beispiel durch die Abbildungen \[ \mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : x\mapsto -x \qquad\text{oder}\qquad \mathbb{R}^3\to\mathbb{R}^3 : \begin{pmatrix}x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} \mapsto \begin{pmatrix}-x_1\\x_2\\x_3\end{pmatrix} \] dargestellt werden. Beide haben zunächst die Eigenschaft, dass Längen und Winkel und damit das Skalarprodukt erhalten sind. Diese Eigenschaft allein erlaubt aber noch nicht, die beiden Transformationen zu unterscheiden. Die Punktspiegelung zeichnet sich dadurch aus, das alle Geraden und alle Ebenen durch den Ursprung auf sich selbst abgebildet werden. Dies funktioniert für die Ebenenspiegelung nicht, dort bleibt nur die Spiegelungsebene (die $x_1$-$x_2$-Ebene im vorliegenden Fall) und ihre Normale erhalten. Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie solche Symmetriedefinitionen auf algebraische Bedingungen an die Matrixelemente führen. Zu jeder Abbildung $f\colon\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$, unter der ein geometrisches Objekt in $\mathbb{R}^n$ unveränder bleibt, können wir sofort weitere Abbildungen angeben, die ebenfalls Symmetrien sind. Zum Beispiel sind die iterierten Abbildungen $f\circ f$, $f\circ f\circ f$ usw., die wir auch $f^n$ mit $n\in\mathbb{N}$ schreiben werden, ebenfalls Symmetrien. Wenn die Symmetrie auch umkehrbar ist, dann gilt dies sogar für alle $n\in\mathbb{Z}$. Wir erhalten so eine Abbildung $\varphi\colon \mathbb{Z}\to \operatorname{GL}_n(\mathbb{R}):n\mapsto f^n$ mit den Eigenschaften $\varphi(0)=f^0 = I$ und $\varphi(n+m)=f^{n+m}=f^n\circ f^m = \varphi(n)\circ\varphi(m)$. $\varphi$ ist ein Homomorphismus (siehe Definition~\ref{buch:gruppen:def:homomorphismus}) der Gruppe $\mathbb{Z}$ in die Gruppe $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. Wir nennen dies eine {\em diskrete Symmetrie}. \subsection{Kontinuierliche Symmetrien \label{buch:subsection:kontinuierliche-symmetrien}} Von besonderem Interesse sind kontinuierliche Symmetrien. Dies sind Abbildungen eines Systems, die von einem Parameter abhängen. Zum Beispiel können Drehungen der Ebene $\mathbb{R}^2$ um den Winkel $\alpha$ durch die Matrizen \[ R_{\alpha} = \begin{pmatrix} \cos\alpha&-\sin\alpha\\ \sin\alpha& \cos\alpha \end{pmatrix} \] beschrieben werden. Ein Kreis um den Nullpunkt bleibt unter jeder dieser Drehungen invariant. Im Gegensatz dazu sind alle gleichseitigen Dreiecke mit Schwerpunkt $0$ nur unter der einen Drehung $R_{\frac{2\pi}3}$ invariant. Eine minimale Menge, die einen vorgegebenen Punkt enthält und unter allen Drehungen $R_\alpha$ invariant ist, ist immer ein Kreis um den Nullpunkt. \begin{definition} \label{buch:lie:def:einparameteruntergruppe} Ein Homomorphismus $\varphi\colon\mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$ von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in die allgemeine lineare Gruppe heisst eine {\em Einparameteruntergruppe} von $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. \end{definition} \index{Einparameteruntergruppe} Die Abbildung \[ \varphi \colon \mathbb{R}\to\operatorname{GL}_n(\mathbb{R}) : \alpha \mapsto R_{\alpha} = \begin{pmatrix} \cos\alpha&-\sin\alpha\\ \sin\alpha& \cos\alpha \end{pmatrix} \] ist also eine Einparameteruntergruppe von $\operatorname{GL}_2(\mathbb{R})$. \subsubsection{Der harmonische Oszillator} \index{harmonischer Oszillator}% \index{Oszillator}% \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/60-gruppen/images/phasenraum.pdf} \caption{Die Lösungen der Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} im Phasenraum sind Ellipsen mit Halbachsenverhältnis $\omega^{-1}$. \label{chapter:gruppen:fig:phasenraum}} \end{figure} Eine Masse $m$ verbunden mit einer Feder mit der Federkonstanten $K$ \index{Federkonstante}% schwingt um die Ruhelage $x=0$ entsprechend der Differentialgleichung \[ m\frac{d^2}{dt^2} x(t) = -Kx(t). \] Die Kreisfrequenz der Schwingung ist \index{Kreisfrequenz}% \index{Schwingung}% \[ \omega = \sqrt{\frac{K}{m}}. \] Das System kann als zweidimensionales System im Phasenraum mit den Koordinaten $x_1=x$ und $x_2=p=m\dot{x}$ beschrieben werden. Die zweidimensionale Differentialgleichung ist \index{zweidimensionale Differentialgleichung}% \begin{equation} \left. \begin{aligned} \dot{x}(t) &= \frac{1}{m}p(t)\\ \dot{p}(t) &= -Kx(t) \end{aligned} \quad \right\} \qquad\Rightarrow\qquad \frac{d}{dt} \begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix} = \begin{pmatrix} 0&\frac{1}{m}\\ -K&0 \end{pmatrix} \begin{pmatrix}x(t)\\p(t)\end{pmatrix}. \label{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} \end{equation} Die Lösung der Differentialgleichung für die Anfangsbedingung $x(0)=1$ und $p(0)=0$ ist \[ x(t) = \cos \omega t \qquad\Rightarrow\qquad p(t) = -\omega \sin\omega t, \] die Lösung zur Anfangsbedingung $x(0)=0$ und $p(0)=1$ ist \[ x(t) = \frac{1}{\omega} \sin\omega t, \qquad p(t) = \cos \omega t. \] In Matrixform kann man die allgemeine Lösung zur Anfangsbedingung $x(0)=x_0$ und $p(0)=p_0$ \begin{equation} \begin{pmatrix} x(t)\\ p(t) \end{pmatrix} = \underbrace{ \begin{pmatrix} \cos \omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ -\omega \sin\omega t & \cos\omega t \end{pmatrix} }_{\displaystyle =\Phi_t} \begin{pmatrix}x_0\\p_0\end{pmatrix} \label{buch:gruppen:eqn:phi} \end{equation} schreiben. Die Matrizen $\Phi_t$ bilden eine Einparameteruntergruppe von $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$, da \begin{align*} \Phi_s\Phi_t &= \begin{pmatrix} \cos\omega s & \frac{1}{\omega} \sin\omega s \\ -\omega \sin\omega s & \cos\omega s \end{pmatrix} \begin{pmatrix} \cos\omega t & \frac{1}{\omega} \sin\omega t \\ -\omega \sin\omega t & \cos\omega t \end{pmatrix} \\ &= \begin{pmatrix} \cos\omega s \cos\omega t - \sin\omega s \sin\omega t & \frac{1}{\omega} ( \cos\omega s \sin\omega t + \sin\omega s \cos \omega t) \\ -\omega (\sin\omega s \cos\omega t + \cos\omega s \sin\omega t ) & \cos\omega s \cos\omega t -\sin\omega s \sin\omega t \end{pmatrix} \\ &= \begin{pmatrix} \cos\omega(s+t) & \frac{1}{\omega}\sin\omega(s+t) \\ -\omega \sin\omega(s+t) & \cos\omega(s+t) \end{pmatrix} = \Phi_{s+t} \end{align*} gilt. Die Lösungen der Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} sind in Abbildung~\ref{chapter:gruppen:fig:phasenraum} dargestellt. dargestellt. Die Matrizen $\Phi_t$ beschreiben eine kontinuierliche Symmetrie des Differentialgleichungssystems, welches den harmonischen Oszillator beschreibt. \subsubsection{Fluss einer Differentialgleichung} \index{Fluss}% Die Abbildungen $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} sind jeweils Matrizen in $\operatorname{GL}_n(\mathbb{R})$. Der Grund dafür ist, dass die Differentialgleichung~\eqref{chapter:gruppen:eqn:phasenraumdgl} linear ist. Dies hat zur Folge, dass für zwei Anfangsbedingungen $x_1,x_2\in\mathbb{R}^2$ die Lösung für Linearkombinationen $\lambda x_1+\mu x_2$ durch Linearkombination der Lösungen erhalten werden kann, also aus der Formel \[ \Phi_t (\lambda x_1 + \mu x_2) = \lambda \Phi_t x_1 + \mu \Phi_t x_2. \] Dies zeigt, dass $\Phi_t$ für jedes $t$ eine lineare Abbildung sein muss. Für eine beliebige Differentialgleichung kann man immer noch eine Abbildung $\Phi$ konstruieren, die aber nicht mehr linear ist. Sei dazu die Differentialgleichung erster Ordnung \begin{equation} \frac{dx}{dt} = f(t,x) \qquad\text{mit}\qquad f\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n \label{buch:gruppen:eqn:dgl} \end{equation} gegeben. Für jeden Anfangswert $x_0\in\mathbb{R}^n$ kann man mindestens für eine gewisse Zeit $t <\varepsilon$ eine Lösung $x(t,x_0)$ finden mit $x(t,x_0)=x_0$. Aus der Theorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen ist auch bekannt, dass $x(t,x_0)$ mindestens in der Nähe von $x_0$ differenzierbar von $x_0$ abhängt. Dies erlaubt eine Abbildung \[ \Phi\colon \mathbb{R}\times \mathbb{R}^n \to \mathbb{R}^n : (t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) = x(t,x_0) \] zu definieren, die sowohl von $t$ als auch von $x_0$ differenzierbar abhängt. Aus der Definition folgt unmittelbar, dass $\Phi_0(x_0)=x_0$ ist, dass also $\Phi_0$ die identische Abbildung von $\mathbb{R}^n$ ist. Aus der Definition lässt sich auch ableiten, dass $\Phi_{s+t}=\Phi_s\circ\Phi_t$ gilt. $\Phi_t(x_0)=x(t,x_0)$ ist der Endpunkt der Bahn, die bei $x_0$ beginnt und sich während der Zeit $t$ entwickelt. $\Phi_s(x(t,x_0))$ ist dann der Endpunkt der Bahn, die bei $x(t,x_0)$ beginnt und sich während der Zeit $s$ entwickelt. Somit ist $\Phi_s\circ \Phi_t(x_0)$ der Endpunkt der Bahn, die bei $x_0$ beginnt und sich über die Zeit $s+t$ entwickelt. In Formeln bedeutet dies \[ \Phi_{s+t} = \Phi_s\circ \Phi_t. \] Die Abbildung $t\mapsto \Phi_t$ ist also wieder ein Homomorphismus von der additiven Gruppe $\mathbb{R}$ in eine Gruppe von differenzierbaren Abbildungen $\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n$. \begin{definition} Die Abbildung \[ \Phi\colon \mathbb{R}\times\mathbb{R}^n\to\mathbb{R}^n : (t,x_0) \mapsto \Phi_t(x_0) := x(t,x_0) \] heisst der {\em Fluss} der Differentialgleichung \index{Fluss}% \eqref{buch:gruppen:eqn:dgl}, wenn für jedes $x_0\in\mathbb{R}^n$ die Kurve $t\mapsto \Phi_t(x_0)$ eine Lösung der Differentialgleichung ist mit Anfangsbedingung $x_0$. \end{definition} Die Abbildung $\Phi_t$ von \eqref{buch:gruppen:eqn:phi} ist also der Fluss der Differentialgleichung des harmonischen Oszillators. \subsection{Mannigfaltigkeiten \label{buch:subsection:mannigfaltigkeit}} Eine Differentialgleichung der Form~\eqref{buch:gruppen:eqn:dgl} stellt einen Zusammenhang her zwischen einem Punkt $x$ und der Tangentialrichtung einer Bahnkurve $f(t,x)$. Die Ableitung liefert die lineare Näherung der Bahkurve \[ x(t_0+h) = x(t_0) + h f(t_0,x_0) + o(h) \] für $h$ in einer kleinen Umgebung von $0$. Das funktioniert auch, weil $f(t_0,x_0)$ selbst ein Vektor von $\mathbb{R}^n$ ist, in dem die Bahnkurve verläuft. Diese Idee funktioniert nicht mehr zum Beispiel für eine Differentialgleichung auf einer Kugel\-oberfläche, weil alle Punkte $x(t_0)+hf(t_0,x_0)$ für alle $h\ne 0$ nicht mehr auf der Kugeloberfläche liegen. Physikalisch äussert sich das in einer zusätzlichen Kraft, die nötig ist, die Bahn auf der Kugeloberfläche zu halten. Diese Kraft stellt zum Beispiel sicher, dass die Vektoren $f(t,x)$ für Punkte $x$ auf der Kugeloberfläche immer tangential an die Kugel sind. Trotzdem ist der Tangentialvektor oder der Geschwindigkeitsvektor nicht mehr ein Objekt, welches als Teil der Kugeloberfläche definiert werden kann, er kann nur definiert werden, wenn man sich die Kugel als in einen höherdimensionalen Raum eingebettet vorstellen kann. Um die Idee einer Differentialgleichung auf einer beliebigen Fläche konsistent zu machen, ist daher notwendig, die Idee einer Tagentialrichtung auf eine Art zu definieren, die nicht von der Einbettung der Fläche in den $n$-dimensionalen Raum abhängig ist. Das in diesem Abschnitt entwickelte Konzept der {\em Mannigfaltigkeit} löst dieses Problem. \index{Mannigfaltigkeit}% \subsubsection{Karten} Die Navigation auf der Erdoberfläche verwendet das Koordinatensystem der geographischen Länge und Breite. Dieses Koordinatensystem funktioniert gut, solange man sich nicht an den geographischen Polen befindet, denn deren Koordinaten sind nicht mehr eindeutig. Alle Punkte mit geographischer Breite $90^\circ$ und beliebiger geographischer Länge beschreiben den Nordpol. \index{geographische Länge}% \index{geographische Breite}% \index{Nordpol}% \index{Länge, geographisch}% \index{Breite, geographisch}% Auch die Ableitung funktioniert dort nicht mehr. Bewegt man sich mit konstanter Geschwindigkeit über den Nordpol, springt die Ableitung der geographischen Breite von einem positiven Wert auf einen negativen Wert, sie kann also nicht differenzierbar sein. Diese Einschränkungen stellen in der Praxis nur ein geringes Problem dar, da die meisten Reisen nicht über die Pole erfolgen. Der Polarforscher, der in unmittelbarer Umgebung des Poles arbeitet, kann das Problem lösen, indem er eine lokale Karte für das Gebiet um den Pol erstellt. Dafür kann er beliebige Koordinaten verwenden, zum Beispiel auch ein kartesisches Koordinatensystem, er muss nur eine Methode haben, wie er seine Koordinaten wieder auf geographische Länge und Breite umrechnen will. Und wenn er über Geschwindigkeiten kommunizieren will, dann muss er auch Ableitungen von Kurven in seinem kartesischen Koordinatensystem umrechnen können auf die Kugelkoordinaten. Dazu muss seine Umrechnungsformel von kartesischen Koordinaten auf Kugelkoordinaten differenzierbar sein. Diese Idee wird durch das Konzept der Mannigfaltigkeit verallgemeinert. Eine $n$-dimensionale {\em Mannigfaltigkeit} ist eine Menge $M$ von Punkten, die lokal, also in der Umgebung eines Punktes, mit möglicherweise mehreren verschiedenen Koordinatensystemen versehen werden kann. Ein Koordinatensystem ist eine umkehrbare Abbildung einer offenen Teilmenge $U\subset M$ in den Raum $\mathbb{R}^n$. Die Komponenten dieser Abbildung heissen die {\em Koordinaten}. \index{Koordinaten}% \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/60-gruppen/images/karten.pdf} \caption{Karten $\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to \mathbb{R}^2$ und $\varphi_\beta\colon U_\beta\to \mathbb{R}^2$ auf einem Torus. Auf dem Überschneidungsgebiet $\varphi_\alpha^{-1}(U_\alpha\cap U_\beta)$ ist der Kartenwechsel $\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}$ wohldefiniert und muss differnzierbar sein, wenn eine differenzierbare Mannigfaltigkeit entstehen soll. \label{buch:gruppen:fig:karten}} \end{figure} \begin{definition} \index{Karte}% Eine {\em Karte} auf $M$ ist eine umkehrbare Abbildung $\varphi\colon U\to \mathbb{R}^n$ einer offenen Menge $U_\alpha\subset M$ (siehe auch Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:karten}). Ein {\em differenzierbarer Atlas} ist eine Familie von Karten $\varphi_\alpha$ derart, dass die Definitionsgebiete $U_\alpha$ die ganze Menge $M$ überdecken, und dass die Kartenwechselabbildungen \[ \varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1} \colon \varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta) \to \varphi_\beta(U_\alpha\cap U_\beta) \] als Abbildung von offenen Teilmengen von $\mathbb{R}^n$ differenzierbar ist. Eine {\em $n$-dimensionale differenzierbare Mannigfaltigkeit} ist eine Menge $M$ mit einem differenzierbaren Atlas. \index{Atlas}% \end{definition} Karten und Atlanten regeln also nur, wie sich verschiedene lokale Koordinatensysteme ineinander umrechnen lassen. \begin{beispiel} $M=\mathbb{R}^n$ ist eine differenzierbare Mannigfaltigkeit denn die identische Abbildung $M\to \mathbb{R}^n$ ist eine Karte und ein Atlas von $M$. \end{beispiel} \begin{beispiel} \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/60-gruppen/images/kartenkreis.pdf} \caption{Karten für die Kreislinie $S^1\subset\mathbb{R}^2$. \label{buch:gruppen:fig:kartenkreis}} \end{figure} Die Kreislinie in in der Ebene ist eine $1$-dimensionale Mannigfaltigkeit. Natürlich kann sie nicht mit einer einzigen Karte beschrieben werden, da es keine umkehrbaren Abbildungen zwischen $\mathbb{R}$ und der Kreislinie gibt. Die Projektionen auf die einzelnen Koordinaten liefern die folgenden vier Karten: \begin{align*} \varphi_1&\colon U_{x>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x>0\} \to\mathbb{R} : (x,y) \mapsto y \\ \varphi_2&\colon U_{x<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge x<0\} \to\mathbb{R} : (x,y) \mapsto y \\ \varphi_3&\colon U_{y>0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y>0\} \to\mathbb{R} : (x,y) \mapsto x \\ \varphi_4&\colon U_{y<0}\{(x,y)\;|\;x^2+y^2=1\wedge y<0\} \to\mathbb{R} : (x,y) \mapsto x \end{align*} Die Werte der Kartenabbildungen sind genau die $x$- und $y$-Koordinaten auf der in den Raum $\mathbb{R}^2$ eingebetteten Kreislinie. Für $\varphi_1$ und $\varphi_2$ sind die Definitionsgebiete disjunkt, hier gibt es also keine Notwendigkeit, Koordinatenumrechnungen vornehmen zu können. Dasselbe gilt für $\varphi_3$ und $\varphi_4$. Die nichtleeren Schnittmengen der verschiedenen Kartengebiete beschreiben jeweils die Punkte der Kreislinie in einem Quadranten. Die Umrechnung zwischen den Koordinaten und ihre Ableitung ist je nach Quadrant durch \begin{align*} &\text{1.~Quadrant}& \varphi_{31} &= \varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-y^2\mathstrut} & D\varphi_{31} &= -\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} \\ &\text{2.~Quadrant}& \varphi_{24} &= \varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto\phantom{-}\sqrt{1-x^2\mathstrut} & D\varphi_{24} &= -\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} \\ &\text{3.~Quadrant}& \varphi_{42} &= \varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon y\mapsto-\sqrt{1-y^2\mathstrut} & D\varphi_{42} &= \phantom{-}\frac{y}{\sqrt{1-y^2\mathstrut}} \\ &\text{4.~Quadrant}& \varphi_{14} &= \varphi_3\circ\varphi_1^{-1}\colon x\mapsto-\sqrt{1-x^2\mathstrut} & D\varphi_{14} &= \phantom{-}\frac{x}{\sqrt{1-x^2\mathstrut}} \end{align*} gegeben. Diese Abbildungen sind im offenen Intervall $(-1,1)$ differenzierbar, Schwierigkeiten mit der Ableitungen ergeben sich nur an den Stellen $x=\pm1$ und $y=\pm 1$, die in einem Überschneidungsgebiet von Karten nicht vorkommen können. Somit bilden die vier Karten einen differenzierbaren Atlas für die Kreislinie (Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis}). \end{beispiel} \begin{beispiel} Ganz analog zum vorangegangenen Beispiel über die Kreisline lässt sich für eine $n$-di\-men\-sio\-nale Sphäre \[ S^n = \{ (x_1,\dots,x_{n+1})\;|\; x_0^2+\dots+x_n^2=1\} \] immer ein Atlas aus $2^{n+1}$ Karten mit den Koordinatenabbildungen \[ \varphi_{i,\pm} \colon U_{i,\pm} = \{p\in S^n\;|\; \pm x_i >0\} \to \mathbb{R}^n : p\mapsto (x_1,\dots,\hat{x}_i,\dots,x_{n+1}) \] konstruieren, der $S^n$ zu einer $n$-dimensionalen Mannigfaltigkeit macht. \end{beispiel} \subsubsection{Tangentialraum} Mit Hilfe einer Karte $\varphi_\alpha\colon U_\alpha\to\mathbb{R}^n$ kann das Geschehen in einer Mannigfaltigkeit in den vertrauten $n$-dimensionalen Raum $\mathbb{R}^n$ transportiert werden. Eine Kurve $\gamma\colon \mathbb{R}\to M$, die so parametrisiert sein soll, dass $\gamma(t)\in U_\alpha$ für $t$ in einer Umgebung $I$ von $0$ ist, wird von der Karte in eine Kurve $\gamma_\alpha=\varphi_\alpha\circ\gamma\colon I\to \mathbb{R}^n$ abgebildet, deren Tangentialvektor wieder ein Vektor in $\mathbb{R}^n$ ist. Eine zweite Karte $\varphi_\beta$ führt auf eine andere Kurve mit der Parametrisierung $\gamma_\beta=\varphi_\beta\circ\gamma\colon I \to \mathbb{R}^n$ und einem anderen Tangentialvektor. Die beiden Tangentialvektoren können aber mit der Ableitung der Koordinatenwechsel-Abbildung $\varphi_{\beta\alpha}=\varphi_\beta\circ\varphi_\alpha^{-1}\colon \varphi_\alpha(U_\alpha\cap U_\beta)\to \mathbb{R}^n$ ineinander umgerechnet werden. Aus \[ \gamma_\beta = \varphi_\beta\circ \gamma = ( \varphi_\beta \circ \varphi_\alpha^{-1} ) \circ \varphi_\alpha\circ\gamma = \varphi_{\beta\alpha} \circ \varphi_\alpha\circ\gamma = \varphi_{\beta\alpha}\circ\gamma_\alpha \] folgt durch Ableitung nach dem Kurvenparameter $t$ mit Hilfe der Kettenregel, dass \[ \frac{d}{dt}\gamma_\beta(t) = D\varphi_{\beta\alpha} \cdot \frac{d}{dt}\gamma_\alpha(t). \] Die Ableitung $D\varphi_{\beta\alpha}$ von $\varphi_{\beta\alpha}$ an der Stelle $\gamma_\alpha(t)$ berechnet also aus dem Tangentialvektor einer Kurve in der Karte $\varphi_\alpha$ den Tangentialvektor der Kurve in der Karte $\varphi_\beta$. Die Forderung nach Differenzierbarkeit der Kartenwechselabbildungen $\varphi_{\beta\alpha}$ stellt also nur sicher, dass die Beschreibung eines Systemes mit Differentialgleichungen in verschiedenen Koordinatensystemen auf die gleichen Lösungskurven in der Mannigfaltigkeit führt. Insbesondere ist die Verwendung von Karten also nur ein Werkzeug, mit dem die Unmöglichkeit einer globalen Besschreibung einer Mannigfaltigkeit $M$ mit einem einzigen globalen Koordinatensystem ohne Singularitäten umgangen werden kann. \begin{beispiel} Das Beispiel des Kreises in Abbildung~\ref{buch:gruppen:fig:kartenkreis} zeigt, dass die Tangentialvektoren je nach Karte sehr verschieden aussehen können. Der Tangentialvektor der Kurve $\gamma(t) = (x(t), y(t))$ im Punkt $\gamma(t)$ ist $\dot{y}(t)$ in den Karten $\varphi_1$ und $\varphi_2$ und $\dot{x}(t)$ in den Karten $\varphi_3$ und $\varphi_4$. Die spezielle Kurve $\gamma(t) = (\cos t,\sin t)$ hat in einem Punkt $t\in (0,\frac{\pi}2)$ in der Karte $\varphi_1$ den Tangentialvektor $\dot{y}(t)=\cos t$, in der Karte $\varphi_3$ aber den Tangentialvektor $\dot{x}=-\sin t$. Die Ableitung des Kartenwechsels in diesem Punkt ist die $1\times 1$-Matrix \[ D\varphi_{31}(\gamma(t)) = -\frac{y(t)}{\sqrt{1-y(t)^2}} = -\frac{\sin t}{\sqrt{1-\sin^2 t}} = -\frac{\sin t}{\cos t} = -\tan t. \] Die Koordinatenumrechnung ist gegeben durch \[ \dot{x}(t) = D\varphi_{31}(\gamma(t)) \dot{y}(t). \] Für die spezielle Kurve $\gamma(t)=(\cos t,\sin t)$ wird dies zu \[ D\varphi_{31}(\gamma(t)) \cdot \dot{y}(t) = -\tan t\cdot \cos t = -\frac{\sin t}{\cos t}\cdot \cos t = -\sin t = \dot{x}(t). \qedhere \] \end{beispiel} Betrachtet man die Kreislinie als Kurve in $\mathbb{R}^2$, dann ist der Tangentialvektor durch $\dot{\gamma}(t)=(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ gegeben. Da die Karten Projektionen auf die $x$- bzw.~$y$-Achsen sind, entsteht der Tangentialvektor in der Karte durch Projektion von $(\dot{x}(t),\dot{y}(t))$ auf die entsprechende Komponente. Die Tangentialvektoren in zwei verschiedenen Punkten der Kurve können im Allgemeinen nicht miteinander verglichen werden. Darüber hinweg hilft auch die Tatsache nicht, dass die Kreislinie in den Vektorraum $\mathbb{R}^2$ eingebettet sind, wo sich Vektoren durch Translation miteinander vergleichen lassen. Ein nichtverschwindender Tangentialvektor im Punkt $(1,0)$ hat, betrachtet als Vektor in $\mathbb{R}^2$, verschwindende $x$-Komponente, für Tangentialvektoren im Inneren eines Quadranten ist dies nicht der Fall. Eine Möglichkeit, einen Tangentialvektor in $(1,0)$ mit einem Tangentialvektor im Punkt $(\cos t,\sin t)$ zu vergleichen, besteht darin, den Vektor um den Winkel $t$ zu drehen. Dies ist möglich, weil die Kreislinie eine kontinuierliche Symmetrie, nämlich die Drehung um den Winkel $t$ hat, die es erlaubt, den Punkt $(1,0)$ in den Punkt $(\cos t,\sin t)$ abzubilden. Erst diese Symmetrie ermöglicht den Vergleich. Dieser Ansatz ist für alle Matrizengruppen erfolgreich, wie wir später sehen werden. Ein weiterer Ansatz, Tangentialvektoren zu vergleichen, ist die Idee, einen sogenannten Zusammenhang zu definieren, eine Vorschrift, wie \index{Zusammenhang}% \index{Paralleltransport}% Tangentialvektoren infinitesimal entlang von Kurven in der Mannigfaltigkeit transportiert werden können. Auf einer sogenannten {\em Riemannschen Mannigfaltigkeit} ist zusätzlich zur Mannigfaltigkeitsstruktur die Längenmessung definiert. \index{Riemannsche Mannigfaltigkeit}% \index{Mannigfaltigkeit!Riemannsche}% Sie kann dazu verwendet werden, den Transport von Vektoren entlang einer Kurve so zu definieren, dass dabei Längen und Winkel erhalten bleiben. \index{Längenmessung}% Dieser Ansatz ist die Basis der Theorie der Krümmung sogenannter Riemannscher Mannigfaltigkeiten. \index{Krümmung}% %\subsection{Der Satz von Noether %\label{buch:subsection:noether}}