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-rw-r--r-- | buch/chapters/000-einleitung/funktionsbegriff.tex | 74 |
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diff --git a/buch/chapters/000-einleitung/funktionsbegriff.tex b/buch/chapters/000-einleitung/funktionsbegriff.tex new file mode 100644 index 0000000..e684f82 --- /dev/null +++ b/buch/chapters/000-einleitung/funktionsbegriff.tex @@ -0,0 +1,74 @@ +% +% Der Funktionsbegriff +% +\subsection*{Der mathematische Funktionsbegriff} +Der moderne mathematische Funktionsbegriff ist die Krönungn einer +langen Entwicklung. +Erste Ansätze sind in der Darstellung voneinander abhängiger Grössen +in einem Koordinatensystem durch Nikolaus von Oresme im 14.~Jahrhundert +zu erkennen. +Dieser Ansatz, Funktionen einfach nur als Kurven zu betrachten, +war bis ins 17.~Jahrhundert verbreitet. +Der Begriff {\em Funktion} selbst geht wahrscheinlich auf Leibniz +zurück. + +Euler verwendete den Begriff oft austauschbar für zwei im Prinzip +verschiedene Vorstellungen. +Einerseits sah er jeden ``analytischen Ausdruck'' in einer Variablen +$x$ als eine Funktion an, andererseits betrachtete er eine in einem +Koordinatensystem freihändig gezeichnete Kurve als eine Funktion. +Heute unterscheiden wir zwischen der Funktion, also der Zuordnung +von $x$ zu den Funktionswerten $f(x)$ und dem Graphen, also der +von Paaren $(x,f(x))$ gebildeten Kurve in einem Koordinatensystem. +Nach letzterer Vorstellung ist auch die Wurzelfunktion, +die Umkehrfunktion der Quadratfunktion, $f(x)=x^2$ eine Funktion. +Da zu jedem Argument zwei verschiedene Werte $\pm\sqrt{x}$ +für die Wurzel möglich sind, lässt sich diese ``Funktion'' nicht +durch einen ``analytischen Ausdruck'' beschrieben. +Euler beschrieb diese Situation als {\em mehrdeutige Funktion}. + +Was ``analytische Ausdrücke'' alles umfassen sollen, ist ebenfalls +nicht scharf definiert. +Dahinter verbergen sich viele versteckte Annahmen, zum Beispiel +dass Funktionen automatisch stetig und möglicherweise sogar +differenzierbar sind. +Für Lagrange waren nur Funktionen akzeptabel, die durch Potenzreihen +definiert waren, solche Funktionen nennen wir heute {\em analytisch}. +Die Wahl von Potenzreihen zur Definition von Funktion ist einerseits +willkürlich, warum nicht Linearkombinationen von trigonometrischen +Funktionen? +Andererseits gibt es beliebig oft differenzierbare Funktionen, +deren Potenzreihe nicht gegen die Funktion konvergiert. + +Im 19.~Jahrhundert erfuhr die Analysis eine Reformierung. +Ausgehend vom nun präzis gefassten Grenzwertbegriff wurden Stetigkeit +und Differenzierbarkeit als eigenständige Eigenschaften von +Funktionen erkannt. +Eine Funktion war jetzt nur noch eine eindeutige Zuordnung +$x\mapsto f(x)$. +Stetigkeit ist die Eigenschaft, dass der Grenzwert in einem +Punkt des Definitionsbereichs existiert und mit dem Funktionswert +in diesem Punkt übereinstimmt. +Später wurden auch Differenzierbarkeit und Integrierbarkeit als +Eigenschaften von Funktionen erkannt, die vorhanden sein können, +aber nicht müssen. + +Der nun präzis gefasste Funktionsbegriff ist nur selten direkt anwendbar. +In der Physik treten Funktionen als Lösungen von Differentialgleichungen +auf. +Sie sind also immer mindestens differenzierbar, haben aber typischerweise +noch viele weitere Eigenschaften. +So sind zum Beispiel die Lösungen der Differentialgleichung +$y''=-n^2 y$ auf dem Intervall $[-\pi,\pi]$ die Funktionen +$\sin(nx)$ und $\cos(nx)$ für $n\in\mathbb{N}$. +Wie Fourier herausgefunden hat, lässt sich jede stetige $2\pi$-periodische +Funktion als Linearkombination dieser Funktionen approximieren. + +Eine Familie von Differentialgleichungen, die durch wenige Parameter +charakterisiert ist, führt auch zu einer Familie von Lösungsfunktionen, die +sich durch die gleichen Parameter beschreiben lassen. +Sie ist unmittelbar nützlich, da sie jedes Anwendungsproblem löst, +welches durch diese Differentialgleichung modelliert werden kann. +In diesem Sinne ist eine solche spezielle Funktionenfamilie interessanter +als eine beliebige differenzierbare Funktion. + |