From d4046eef3dee4b3de6f1d456132cda22fef8743f Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: =?UTF-8?q?Andreas=20M=C3=BCller?= Date: Sat, 9 Oct 2021 21:13:51 +0200 Subject: erster Entwurf Kapitel Funktionentheorie --- buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex | 732 +++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 732 insertions(+) create mode 100644 buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex (limited to 'buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex') diff --git a/buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex b/buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex new file mode 100644 index 0000000..21d8dcf --- /dev/null +++ b/buch/chapters/080-funktionentheorie/cauchy.tex @@ -0,0 +1,732 @@ +% +% cauchy.tex +% +% (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule +% +\section{Cauchy-Integral +\label{buch:funktionentheorie:section:cauchy}} +\rhead{Cauchy-Integral} + +% +% Wegintegrale und die Cauchy-Formel +% +\subsection{Wegintegrale\label{subsection:wegintegrale}} +Das Finden einer Stammfunktion, die Integration, ist die Grundtechnik, +\index{Stammfunktion}% +mit der man den Übergang von lokaler Information in Form von Ableitungen, +zu globaler Information über reelle Funktionen vollzieht. +Sie liefert aus der Steigung zwischen zwei Punkten $x_0$ und $x$ den +Funktionswert mittels +\[ +f(x)=f(x_0)+\int_{x_0}^xf'(\xi)\,d\xi. +\] +Bei einer reellen Funktion gibt es nur eine Richtung, entlang der man +integrieren könnte. + +Auch in der komplexen Ebene erwarten wir eine Formel +\[ +f(z) = f(z_0) + \int_{z_0}^z f'(\zeta)\,d\zeta. +\] +In der komplexen Ebene gibt es aber beliebig viele Wege, mit denen die +Punkte $z_0$ und $z$ verbunden werden können. +Der Wert von $f(z)$ muss also durch Integration entlang eines speziell +gewählten Weges $\gamma$ +\[ +f(z) = f(z_0) + \int_{\gamma} f'(\zeta)\,d\zeta +\] +bestimmt werden. +Es muss also zunächst geklärt werden, wie ein solches Wegintegral +überhaupt zu verstehen und zu berechnen ist. +Dann gilt es zu untersuchen, inwieweit diese Konstruktion unabhängig +von der Wahl des Weges ist. +Für komplex differenzierbare Funktionen wird sich eine sehr erfolgreiche +Theorie ergeben. + +% +% Wegintegrale +% +\subsubsection{Definition des Wegintegrals} +Ein Weg in der komplexen Ebene ist eine Abbildung +\index{Abbildung}% +\[ +\gamma\colon [a,b]\to\mathbb C: t\mapsto \gamma(t). +\] +Wir verlangen für unsere Zwecke zusätzlich, dass $\gamma$ differenzierbar +ist. +Dann können wir für jede beliebige Funktion das Wegintegral definieren. + +\begin{definition} +Sei $\gamma\colon[a,b]\to\mathbb C$ ein Weg in $\mathbb C$ und $f(z)$ +eine stetige komplexe Funktion, dann heisst +\[ +\int_{\gamma} f(z)\,dz = \int_a^bf(\gamma(t)) \gamma'(t)\,dt +\] +das {\em Wegintegral} von $f(z)$ entlang der Kurve $\gamma$. +\index{Wegintegral} +\end{definition} + +\begin{beispiel} +Man berechne das Wegintegral der Funktion $f(z)=z^n$ entlang des +Weges +$\gamma(t)=1+t+it^2$ +für $t\in[0,1]$. + +Die Definition besagt +\begin{align*} +\int_\gamma f(z)\,dz +&= +\int_0^1 f(\gamma(t))\gamma'(t)\,dt += +\int_0^1 \gamma(t)^n \gamma'(t)\,dt += +\int_0^1 \frac{d}{dt}\frac{\gamma(t)^{n+1}}{n+1}\,dt +\\ +&= +\biggl[\frac{\gamma(t)^{n+1}}{n+1}\biggr]_0^1 += +\frac{(2+i)^{n+1}}{n+1}-\frac{1^{n+1}}{n+1} += +\frac{(2+i)^{n+1}-1}{n+1}. +\end{align*} +Man stellt in diesem Beispiel auch fest, dass das Integral offenbar +unabhängig ist von der Wahl des Weges, es kommt einzig auf die +beiden Endpunkte an: +\[ +\int_\gamma z^n \,dz = \frac1{n+1}\bigl(\gamma(1)^{n+1}-\gamma(0)^{n+1}\bigr). +\] +\end{beispiel} + +\begin{beispiel} +Wir berechnen als Beispiel das Wegintegral der Funktion $f(z)=1/z$ entlang +eines Halbkreises von $1$ zu $-1$. +Es gibt zwei verschiedene solche Halbkreise: +\begin{equation*} +\begin{aligned} +\gamma_+(t)&=e^{it},&t&\in[0,\pi] +\\ +\gamma_-(t)&=e^{-it},&t&\in[0,\pi] +\end{aligned} +\end{equation*} +Wir finden für die Wegintegrale +\begin{align*} +\int_{\gamma_+}\frac1z\,dz +&= +\int_0^\pi \frac1{e^{it}}ie^{it}\,dt=i\int_0^\pi\,dt=i\pi, +\\ +\int_{\gamma_-}\frac1z\,dz +&= +-\int_0^\pi \frac1{e^{-it}}ie^{-it}\,dt=-i\int_0^\pi\,dt=-i\pi. +\end{align*} +Das Wegintegral zwischen $1$ und $-1$ hängt also mindestens für diese +spezielle Funktion $f(z)=1/z$ von der Wahl des Weges ab. +\end{beispiel} + +Wie Wahl der Parametrisierung der Kurve hat keinen Einfluss auf den +Wert des Wegintegrals. + +\begin{satz} +Seien $\gamma_1(t), t\in[a,b],$ und $\gamma_2(s),s\in[c,d]$ +verschiedene Parametrisierungen +\index{Parametrisierung}% +der gleichen Kurve, es gebe also eine Funktion $t(s)$ derart, dass +$\gamma_1(t(s))=\gamma_2(s)$. +Dann ist +\[ +\int_{\gamma_1}f(z)\,dz += +\int_{\gamma_2}f(z)\,dz. +\] +\end{satz} + +\begin{proof}[Beweis] +Wir verwenden die Definition des Wegintegrals +\begin{align*} +\int_{\gamma_1} f(z)\,dz +&= +\int_a^b f(\gamma_1(t))\,\gamma_1'(t)\,dt += +\int_c^d f(\gamma_1(t(s))\,\underbrace{\gamma_1'(t(s)) t'(s)}_{\displaystyle +=\frac{d}{ds}\gamma_1(t(s))}\,ds +\\ +&= +\int_c^d f(\gamma_2(s)\,\gamma_2'(s)\,ds += +\int_{\gamma_2}f(z)\,dz. +\end{align*} +Beim zweiten Gleichheitszeichen haben wir die Formel für die +Variablentransformation $t=t(s)$ in einem Integral verwendet. +\index{Variablentransformation}% +\end{proof} + +Wir erwarten, dass das Wegintegral ähnlich wie das Integral reeller +Funktionen eine Art ``Umkehroperation'' zur Ableitung ist. +Wir untersuchen daher den Fall, dass $f(z)$ eine komplexe Stammfunktion $F(z)$ +hat, also $f(z)=F'(z)$. +Wir berechnen das Wegintegral entlang des Weges $\gamma$: +\begin{align*} +\int_{\gamma}f(z)\,dz +&= +\int_a^bf(\gamma(t))\,\gamma'(t)\,dt += +\int_a^bF'(\gamma(t))\,\gamma'(t)\,dt += +\int_a^b\frac{d}{dt}F(\gamma(t))\,dt += +F(\gamma(a))-F(\gamma(b)) +\end{align*} +Dies ist genau die Formel, die man als den Hauptsatz der Infinitesimalrechnung +kennt. +Trotzdem ist die Situation hier etwas anders. +In der reellen Infinitesimalrechnung war die Existenz einer Stammfunktion +durch das Integral gesichert, man konnte mit +\[ +F(x)=\int_a^xf(\xi)\,d\xi +\] +immer eine Stammfunktion angeben. +Im komplexen Fall können wir natürlich auch versuchen, eine Stammfunktion +mit Hilfe von +\[ +F(z)=\int_{\gamma_z} f(\zeta)\,d\zeta +\] +zu definieren. +Dabei muss allerdings $\gamma_z$ ein Weg sein, der im Punkt $z$ endet, +und wir wissen noch nicht einmal, ob die Wahl des Weges eine Rolle +spielt. +Bevor wir also sicher sein können, dass eine Stammfunktion existiert, +müssen wir zeigen, dass das Wegintegral einer komplex differenzierbaren +Funktion zwischen zwei Punkten nicht von der Wahl des Weges abhängt, +der die beiden Punkte verbindet. +Dazu ist notwendig, geschlossene Wege genauer zu betrachten. + +% +% Wegintegrale führen auf analytische Funktionen +% +\subsubsection{Wegintegrale führen auf analytische Funktionen} +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/080-funktionentheorie/images/integralanalytisch.pdf} +\caption{Pfad und Konvergenzradius für den Nachweis, dass Wegintegrale +auf analytische Funktionen führen (Satz~\ref{komplex:integralanalytisch}). +\label{komplex:integralanalytischpfad}} +\end{figure} +Mit Wegintegralen kann man aus stetigen Funktionen neue Funktionen +konstruieren. +Die folgende Konstruktion liefert überraschenderweise immer +analytische Funktionen. +\begin{satz} +\label{komplex:integralanalytisch} +Sei $\gamma\colon [a,b]\to\mathbb C$ ein Weg in $\mathbb C$, der nicht +durch den Nullpunkt verläuft, und $g$ eine stetige Funktion +auf $\gamma([a,b])$ (Abbildung~\ref{komplex:integralanalytischpfad}). +Dann ist die Funktion +\[ +f(z) = \frac1{2\pi i}\int_\gamma \frac{g(x)}{x-z}\,dx +\] +in einer Umgebung des Nullpunktes analytisch: +\[ +f(z) = \sum_{k=0}^\infty c_k z^k,\qquad +\text{mit\quad} +c_k=\frac1{2\pi i}\int_\gamma \frac{g(x)}{x^{k+1}}\,dx. +\] +Der Konvergenzradius $\varrho$ dieser Reihe ist der minimale Abstand der +Kurve $\gamma$ vom Nullpunkt. +\end{satz} + +\begin{proof}[Beweis] +Zunächst schreiben wir +\begin{equation} +\frac{1}{x-z} += +\frac1x\cdot \frac{1}{1-\displaystyle\frac{z}{x}} += +\frac1x\cdot \sum_{k=0}^\infty \biggl(\frac{z}{x}\biggr)^k += +\sum_{k=0}^\infty \frac{z^k}{x^{k+1}}. +\label{komplex:georeihe} +\end{equation} +Damit können wir jetzt die Funktion $f(z)$ berechnen: +\begin{align*} +f(z) +&= +\frac1{2\pi i} \int_{\gamma} \frac{g(x)}{x-z}\,dx += +\frac1{2\pi i} \int_{\gamma} \sum_{k=0}^\infty \frac{z^k}{x^{k+1}}g(x)\,dx += +\sum_{k=0}^\infty +\underbrace{\biggl(\frac1{2\pi i} \int_{\gamma} \frac{g(x)}{x^{k+1}}\,dx\biggr)}_{\displaystyle =c_k} +z^k += +\sum_{k=0}^\infty c_kz^k. +\end{align*} +Wir müssen uns noch die Konvergenz dieser Reihen überlegen. +Wenn $z<\varrho$ ist, dann ist +\[ +\biggl|\frac{z}{x}\biggr| += +\frac{|z|}{|x|} +<1, +\] +so dass die geometrische Reihe \eqref{komplex:georeihe} konvergent ist, +daraus lesen wir ab, dass der Konvergenzradius mindestens $\varrho$ +ist. +Grösser kann er allerdings auch nicht sein, da für $|z|\ge \varrho$ +das Integral nicht mehr definiert sein muss. +Nimmt man nämlich einen Punkt von $g([a,b])$ für $z$ wird der Integrand +unendlich gross. +\end{proof} + +Der Satz~\ref{komplex:integralanalytisch} ist nur für Potenzreihen +im Punkt $0$ formuliert, was im Wesentlichen durch die +Umformung~\eqref{komplex:georeihe} bedingt war. +Man kann dies aber auch als Potenzreihe +\[ +\frac1{x-z} += +\frac1{x-z_0-(z-z_0)} += +\frac1{x-z_0}\cdot\frac1{1-\displaystyle\frac{z-z_0}{x-z_0}} += +\frac1{x-z_0}\sum_{k=0}^\infty\biggl(\frac{z-z_0}{x-z_0}\biggr)^k += +\sum_{k=0}^\infty\frac1{(x-z_0)^{k+1}}(z-z_0)^k +\] +im Punkt $z_0$ ausdrücken. +Man bekommt dann die Potenzreihe +\[ +f(z) = \sum_{k=1}^\infty c_k(z-z_0)^k,\qquad +\text{mit}\quad +c_k=\frac1{2\pi i}\oint_\gamma\frac{g(x)}{(x-z_0)^{k+1}}\,dx +\] +für das Wegintegral. + +\subsubsection{Laurent-Reihen} +\label{sssec:LaurentReihen} +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/080-funktionentheorie/images/laurent.pdf} +\caption{Pfad zur Herleitung der Laurent-Reihe einer Funktion $f(z)$ +mit einer Singularität $z_0$. +\label{komplex:laurentpfad}} +\end{figure}% +\index{Laurent-Reihe}% +In Satz~\ref{komplex:integralanalytisch} konnten wir eine Potenzreihe für +solche $z$ konstruieren, deren Betrag kleiner ist als der kleinste Abstand +der Kurve $\gamma$ vom Ursprung. +Dies war notwendig, weil in~\eqref{komplex:georeihe} die geometrische Reihe +nur konvergiert, wenn der Quotient $<1$ ist. +Wenn die Funktion $f(z)$ jedoch eine Singularität im Punkt $z_0$ hat, dann +kann es nicht möglich sein, die Funktion mit einer Potenzreihe zu +beschreiben. + +Wir verwenden daher den speziellen Pfad in Abbildung~\ref{komplex:laurentpfad}. +Er führt in einem grossen Kreis $\gamma_1$ um den Punkt $z_0$ herum, +dann folgt ein zur $x$-Achse paralleler Abschnitt, der bis zum kleinen +Kreis $\gamma_2$ führt. +Nach Durchlaufen des kleinen Kreises $\gamma_2$ im Uhrzeigersinn folgt wieder +ein zur $x$-Achse paralleles Stück zurück zum grossen Kreis. +Da die geraden Stücke zweimal in entgegegengesetzer Richtung durchlaufen +werden, heben sie sich weg. +Ein Wegintegral entlang $\gamma$ zerfällt daher in eine Differenz +\[ +\oint_\gamma\dots\,dz += +\oint_{\gamma_1}\dots\,dz +- +\oint_{\gamma_2}\dots\,dz +\] +von Wegintegralen entlang $\gamma_1$ und $\gamma_2$. + +Der äussere Pfad $\gamma_1$ gibt wie in Satz~\ref{komplex:integralanalytisch} +Anlass zu einer Potenzreihe in $(z-z_0)$. +Der innere Pfad $\gamma_2$ kann aber nicht so behandelt werden, da $z$ immer +weiter von $z_0$ entfernt als die Punkte auf $\gamma_2$. +Allerdings ist $|x/z| < 1$ für Punkte auf $\gamma_2$, wir müssen daher +die geometrische Reihe auf $x/z$ anwenden: +\begin{align*} +\frac{1}{x-z} +&= +\frac{1}{x-z_0-(z-z_0)} += +\frac{1}{z-z_0} +\cdot +\frac{1}{\displaystyle\frac{x-z_0}{z-z_0}-1} += +-\sum_{k=0}^\infty \frac{(x-z_0)^k}{(z-z_0)^{k+1}}. +\end{align*} +Das Integral entlang der Kurve $\gamma_2$ kann also als Reihe in $1/(z-z_0)$ +entwickelt werden: +\begin{align*} +f_2(z) +&= +\frac{1}{2\pi i}\int_{\gamma_2} \frac{g(x)}{x-z}\,dx += +\frac{1}{2\pi i}\int_{\gamma_2}\sum_{k=0}^\infty +\frac{(x-z_0)^k}{(z-z_0)^{k+1}}\,dx +\\ +&= +\sum_{k=0}^\infty +\biggl( +\underbrace{\frac1{2\pi i}\int_{\gamma_2} (x-z_0)^kg(x)\,dx +}_{\displaystyle =d_{k+1}} +\biggr) +\frac1{(z-z_0)^{k+1}} +=\sum_{k=1}^\infty \frac{d_k}{(z-z_0)^k}. +\end{align*} +Zusammen mit der vom Integral entlang $\gamma_1$ herrührenden Reihe finden +wir den Satz +\begin{satz} +\label{komplex:laurentreihe} +Ist $g(z)$ eine entlang der Kurve $\gamma$ wie in +Abbildung~\ref{komplex:laurentpfad} definierte stetige Funktion, dann gilt +\[ +f(z)=\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma} \frac{f(x)}{x-z}\,dx += +\sum_{k=0}^{\infty} c_k(z-z_0)^k-\sum_{k=1}^\infty \frac{d_k}{(z-z_0)^k}, +\] +wobei die Koeffizienten $c_k$ und $d_k$ gegeben sind durch +\[ +\begin{aligned} +c_k&=\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma_1} \frac{g(x)}{x-z_0}\,dx +&& +\text{und} +& +d_k&=\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma_2} g(x)x^{k-1}\,dx. +\end{aligned} +\] +\end{satz} + +\begin{definition} +Eine Reihe der Form +\[ +\sum_{k=-\infty}^\infty a_k(z-z_0)^k +\] +heisst {\em Laurent-Reihe } +im Punkt $z_0$. +\end{definition} + + +% +% Geschlossene Wege +% +\subsubsection{Geschlossene Wege} +\begin{definition} +Ein Weg $\gamma\colon[a,b]\to\mathbb C$ heisst {\em geschlossen}, wenn +$\gamma(a)=\gamma(b)$. +\index{geschlossener Weg} +Das Integral entlang eines geschlossenen Weges hängt nicht von der +Parametrisierung ab und wird zur Verdeutlichung mit +\[ +\int_{\gamma}f(z)\,dz += +\oint_{\gamma}f(z)\,dz +\] +bezeichnet. +\end{definition} + +\begin{beispiel} +Wir berechnen das Integral von $f(z)=z^n$ entlang des Einheitskreises, +den wir mit $\gamma(t)=e^{it},t\in[0,2\pi]$ parametrisieren. +Die Definition liefert: +\begin{align*} +\oint_{\gamma}f(z)\,dz +&= +\int_0^{2\pi}e^{int}ie^{it}\,dt += +i\int_0^{2\pi}e^{i(n+1)t}\,dt +\end{align*} +Für $n=-1$ ist dies das Integral einer konstanten Funktion, also +\[ +\oint_{\gamma}\frac1z\,dz=2\pi i. +\] +Für $n\ne -1$ kann man eine Stammfunktion von $e^{i(n+1)t}$ +verwenden: +\[ +\oint_{\gamma}f(z)\,dz += +i\left[\frac1{i(n+1)}e^{i(n+1)t}\right]_0^{2\pi} +=0, +\] +weil $e^{i(n+1)t}$ periodisch ist mit Periode $2\pi$. +\end{beispiel} +Das Beispiel zeigt, dass ein Wegintegral der Potenzfunktionen, +aller Polynome und schliesslich aller konvergenten Potenzreihen +über einen geschlossenen Weg verschwinden. +Es zeigt aber auch, dass das Wegintegral über einen geschlossenen +Weg nicht zu verschwinden braucht, wie das Beispiel $f(z)=1/z$ +zeigt. +Letztere Funktion unterscheidet sich von den Potenzfunktionen allerdings +dadurch, dass sie im Nullpunkt nicht definiert ist. + +\begin{satz} +Sei $f(z)$ eine in einem zusammenhängenden Gebiet $\Omega\subset\mathbb C$ +definierte komplexe Funktion, für die das Wegintegral über jeden +geschlossenen Weg verschwindet. +Dann hat $f(z)$ eine komplexe Stammfunktion $F(z)$. +\end{satz} + +\begin{proof}[Beweis] +Wir wählen einen beliebigen Punkt $z_0\in\Omega$ definieren die +komplexe Stammfunktion mit Hilfe des Wegintegrals +\[ +F(z)=\int_{\gamma_z} f(\zeta)\,d\zeta, +\] +wobei $\gamma_z$ ein beliebiger Weg ist, der $z_0$ mit $z$ verbindet. + +Wir müssen uns davon überzeugen, dass die Wahl des Weges keinen Einfluss +auf $F(z)$ hat. +Dazu seien $\gamma_1$ und $\gamma_2$ zwei verschiedene Wege, die +$z_0$ mit $z$ verbinden. +Da die Parametrisierung der Wege keinen Einfluss auf das Wegintegral haben, +nehmen wir an, dass beide Wege auf dem Intervall $[0,1]$ definiert sind. + +Jetzt konstruieren wir einen geschlossene Weg $\gamma$ durch die +Definition: +\[ +\gamma\colon[0,2]\to\mathbb C:t\mapsto +\begin{cases} +\gamma_1(t)&\qquad 0\le t\le 1\\ +\gamma_2(2-t)&\qquad 1\le t\le 2 +\end{cases} +\] +Der Weg $\gamma$ besteht aus $\gamma_1$ und dem in umgekehrter Richtung +durchlaufenen Weg $\gamma_2$, denn an der Stelle $t=1$ passen die +beiden Teilwege nahtlos zusammen: $\gamma_1(1)=\gamma_2(1)=\gamma_2(2-1)$. +Wegen $\gamma(2)=\gamma_2(2-2)=\gamma_2(0)=\gamma_1(0)$ ist der +Weg geschlossen. +Nach Voraussetzung ist verschwindet das Wegintegral über $\gamma$. +Es folgt +\begin{align*} +0 +&= +\int_{\gamma}f(z)\,dz +\\ +&= +\int_0^1 f(\gamma_1(t))\gamma_1'(t)\,dt ++ \int_1^2f(\gamma_2(2-t))\frac{d}{dt}\gamma_2(2-t)\,dt +\\ +&= +\int_0^1 f(\gamma_1(t))\gamma_1'(t)\,dt +- \int_1^2f(\gamma_2(2-t))\gamma_2'(2-t)\,dt +\\ +&= +\int_0^1 f(\gamma_1(t))\gamma_1'(t)\,dt +- \int_0^1f(\gamma_2(s))\gamma_2'(s)\,ds +\\ +&= +\int_{\gamma_1}f(z)\,dz - \int_{\gamma_2}f(z)\,dz +\\ +\Rightarrow\qquad +\int_{\gamma_2}f(z)\,dz&=\int_{\gamma_1}f(z)\,dz. +\end{align*} +Da die Wahl des Weges keine Rolle spielt, ist $F(z)$ wohldefiniert. +\end{proof} + +Die Bedingung des eben bewiesenen Satzes ist nicht wirklich nützlich, +sie ist kaum nachprüfbar. +Es braucht also zusätzliche Anstrengungen um genügend viele +Funktionen zu finden, welche die Eigenschaft haben, dass Wegintegrale +über geschlossene Wege verschwinden. +Wir zielen dabei auf den folgenden Satz hin: +\begin{satz}[Cauchy] +Ist $f(z)$ eine in einem Gebiet $\Omega\subset\mathbb C$ definierte +komplex differenzierbare Funktion, und ist $\gamma$ ein im Gebiet +$\Omega$ auf einen Punkt zusammenziehbarer geschlossener Weg, dann gilt +\[ +\oint_{\gamma}f(z)\,dz=0. +\] +Ist insbesondere $\Omega$ {\em einfach zusammenhängend} +\index{einfach zusammenhangend@einfach zusammenhängend}% +\index{zusammenziehbar}% +(d.~h.~jeder geschlossene Weg lässt sich in einen Punkt zusammenziehen), +dann verschwindet das Wegintegral von $f(z)$ über jeden geschlossenen +Weg in $\Omega$. +\index{einfach zusammenhangend@einfach zusammenhängend} +\end{satz} + + +\begin{proof}[Beweis] +Wir verwenden für den folgenden Beweis den Satz von Green über +\index{Green, Satz von}% +Wegintegrale in der Ebene. +Er besagt, dass für einen geschlossenen Weg $\gamma$ der in der Ebene +das Gebiet $D$ berandet, und zwei Funktionen $L(x,y)$ und $M(x,y)$, gilt +\[ +\oint_\gamma(L\,dx + M\,dy) += +\int_D \biggl(\frac{\partial M}{\partial x} +-\frac{\partial L}{\partial y}\biggr)\,dx\,dy. +\] +Wir berechnen jetzt das Integral einer komplex differenzierbaren Funktion +$f(z)$ +\begin{align*} +\oint_\gamma f(z)\,dz +&= +\int (u(x,y)+iv(x,y))(\dot x(t)+i\dot y(t))\,dt +\\ +&= +\int u(x,y)\dot x(t) -v(x,y)\dot y(t)\,dt ++ +i \int u(x,y)\dot y(t)+v(x,y)\dot x(t)\,dt +\\ +&=\oint_\gamma(u\,dx - v\,dy) + i\oint_\gamma(v\,dx + u\,dy) +\\ +&= +\int_D +\underbrace{-\frac{\partial v}{\partial x}}_{\displaystyle=\frac{\partial u}{\partial y}} +-\frac{\partial u}{\partial y} +\,dx\,dy ++i +\int_D +\underbrace{\frac{\partial u}{\partial x}}_{\displaystyle=\frac{\partial v}{\partial y}} +-\frac{\partial v}{\partial y}\,dx\,dy +=0. +\end{align*} +Dabei haben wir auf der dritten Zeile den Satz von Green angewendet, +und auf der letzten Zeile die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen. +\end{proof} + +\subsection{Die Cauchy-Integralformel} +\index{Cauchy-Integralformel}% +Sei jetzt $f(z)$ eine komplex differenzierbare Funktion. +Dann ist auch die Funktion +\[ +g(z)=\frac{f(z)}{z-a} +\] +komplex differenzierbar für $z\ne a$. +Insbesondere ist der Wert des Wegintegrals von $g(z)$ entlang +eines geschlossenen Pfades um den Punkt $a$ unabhängig von der Wahl +des Weges. +Zum Beispiel könnten wir das Wegintegral mit Hilfe eines kleinen Kreises +um $a$ mit Radius $r$ mit der Parametrisierung +\[ +t\mapsto \gamma(t)=a+re^{it},\quad t\in[0,2\pi] +\] +berechnen. +Die Rechnung ergibt +\begin{align*} +\oint_\gamma \frac{f(z)}{z-a}\,dz +&= +\int_0^{2\pi} \frac{f(a+re^{it})}{re^{it}}ire^{it}\,dt += +i\int_0^{2\pi} f(a+re^{it})\,dt +\end{align*} +Da $f(z)$ komplex differenzierbar ist, können wir $f(z)$ approximieren +durch $f(z)=f(a)+f'(a)(z-a)+o(z-a)$, also +\begin{align*} +\oint_{\gamma} \frac{f(z)}{z-a}\,dz +&= +i\int_0^{2\pi}f(a) + f'(a)re^{it}+o(r)\,dt +\\ +&= +f(a)i\int_0^{2\pi}\,dt ++ irf'(a)\int_0^{2\pi} e^{it}\,dt + i\int_0^{2\pi}o(r)\,dt +\\ +&= +2\pi i f(a) + irf'(a)\underbrace{\left[\frac1{i}e^{it}\right]_0^{2\pi}}_{\displaystyle=0}+o(r) +\\ +&=2\pi i f(a)+o(r). +\end{align*} +Da das Wegintegral einer komplex differenzierbaren Funktion aber unabhängig +vom Weg und damit vom Radius $r$ sein muss, folgt +\[ +\oint_\gamma \frac{f(z)}{z-a}\,dz=2\pi i f(a). +\] +Wir haben damit den folgenden Satz bewiesen: + +\begin{satz}[Cauchy] +Ist $\gamma$ ein geschlossener Weg in der komplexen Ebene, die ein +Gebiet umrandet, in dem die komplexe Funktion $f(z)$ komplex +differenzierbar ist, dann gilt +\[ +f(a)=\frac{1}{2\pi i}\oint_{\gamma}\frac{f(z)}{z-a}\,dz. +\] +Insbesondere sind die Werte einer komplex differenzierbaren Funktion +im Inneren eines Gebietes durch die Werte auf dem Rand bereits vollständig +bestimmt. +\end{satz} + +\subsubsection{Ableitungen und Cauchy-Formel} +Sei $f(z)$ eine komplex differenzierbare Funktion, als Definitionsgebiet +nehmen wir der Einfachheit halber einen Kreis vom Radius $r$ um den Nullpunkt, +sein Rand ist die Kurve $\gamma$. +Durch Ableiten der Cachyschen Integralformel finden wir +\begin{align*} +f(z) +&= +\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma}\frac{f(\zeta)}{\zeta-z}\,d\zeta +\\ +f'(z) +&= +\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma}\frac{f(\zeta)}{(\zeta-z)^2}\,d\zeta +\\ +f'' (z) +&= +\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma}2\frac{f(\zeta)}{(\zeta-z)^3}\,d\zeta +\\ +f'''(z) +&= +\frac1{2\pi i}\oint_{\gamma}2\cdot 3\frac{f(\zeta)}{(\zeta-z)^4}\,d\zeta +\\ +&\vdots +\\ +f^{(k)}(z) +&= +\frac{k!}{2\pi i}\oint_{\gamma}\frac{f(\zeta)}{(\zeta-z)^{k+1}}\,d\zeta. +\end{align*} +Es folgt + +\begin{satz} +Eine komplex differenzierbare Funktion ist beliebig oft differenzierbar. +\end{satz} + +\subsubsection{Komplex differenzierbare Funktionen sind analytisch} +Wir haben früher gesehen, dass Wegintegrale auf analytische Funktionen +führen. +Andererseits zeigt das Cauchy-Integral, dass komplex differenzierbare +Funktionen durch genau die Integrale bestimmt sind, die in den +Reihenentwicklungen in Satz~\ref{komplex:integralanalytisch} auftraten. +Diese Resultate können wir im folgenden Satz zusammenfassen. + +\begin{satz} +Eine komplex differenzierbare Funktion $f(z)$, die in einer Kreisscheibe +vom Radius $r$ um den Punkt $z_0$ definiert ist, ist analytisch. +Ihre Potenzreihenentwicklung +\[ +f(z)=\sum_{k=0}^na_k(z-z_0)^k +\] +hat die Koeffizienten +\[ +a_k=\frac1{2\pi i}\int_{\gamma}\frac{f(z)}{(z-z_0)^{k+1}}\,dz,\quad +k\ge 0. +\] +\end{satz} + +\begin{proof}[Beweis] +Da $f$ komplex differenzierbar ist, gilt +\[ +f(z)=\frac1{2\pi i}\oint_\gamma \frac{f(\zeta)}{\zeta-z}\,d\zeta. +\] +In Satz~\ref{komplex:integralanalytisch} wurde gezeigt, dass $f(z)$ +analytisch ist, und dass die Koeffizienten der Potenzreihe von +der verlangten Form sind. +\end{proof} + +Für eine komplexe Funktion, die im Punkt $z_0$ eine Singularität hat, +also in einer Umgebung von $z_0$ ohne den Punkt $z_0$ definiert ist, +können wir das Resultat aus Satz~\ref{komplex:laurentreihe} verwenden, +und zum folgenden analogen Resultat gelangen: + +\begin{satz} +Eine komplex differenzierbare Funktion $f(z)$, die in einer Kreisscheibe +vom Radius $r$ um den Punkt $z_0$ mit Ausnahme des Punktes $z_0$ +definiert ist, kann in eine konvergente Laurent-Reihe +\[ +f(z)=\sum_{k=-\infty}^{\infty} c_k(z-z_0)^k +\] +entwickelt werden, deren Koeffizienten durch +\[ +c_k = \frac1{2\pi i}\oint_\gamma \frac{f(\zeta)}{(z-z_0)^{k+1}}\,d\zeta,\qquad k\in\mathbb Z +\] +gegeben sind. +\end{satz} + -- cgit v1.2.1