% % einleitung.tex % % (c) 2022 Prof Dr Andreas Müller % \chapter*{Einleitung\label{chapter:einleitung}} \lhead{Einleitung} \rhead{} \addcontentsline{toc}{chapter}{Einleitung} Eine Polynomgleichung wie etwa \begin{equation} p(x) = ax^2+bx+c = 0 \label{buch:einleitung:quadratisch} \end{equation} kann manchmal dadurch gelöst werden, dass man die Nullstellen errät und damit eine Faktorisierung $p(x)=a(x-x_1)(x-x_2)$ konstruiert. Doch im Allgemeinen wird man die Lösungsformel für quadratische Gleichungen verwenden, die auf quadratischem Ergänzen basiert. Es erlaubt die Gleichung~\eqref{buch:einleitung:quadratisch} umzwandeln in \[ \biggl(x + \frac{b}{2a}\biggr)^2 = -\frac{c}{a} + \frac{b^2}{4a^2} = \frac{b^2-4ac}{4a^2}. \] Um diese Gleichung nach $x$ aufzulösen, muss man die inverse Funktion der Quadratfunktion zur Verfügung haben, die Wurzelfunktion. Dies ist wohl das älteste Beispiel einer speziellen Funktion, die man zu dem Zweck eingeführt hat, spezielle algebraische Gleichungen lösen zu können. Sie liefert die bekannte Lösungsformel \[ x=\frac{-b\pm\sqrt{b^2-4ac}}{2a} \] für die quadratische Gleichung. Durch die Definition der Wurzelfunktion ist das Problem der numerischen Berechnung der Nullstelle natürlich noch nicht gelöst, aber man hat ein handliches mathematisches Symbol gewonnen, mit dem man die Lösungen übersichtlich beschreiben und algebraisch manipulieren kann. Diese Idee steht hinter allen weiteren in diesem Buch diskutierten Funktionen: wann immer ein wichtiges mathematisches Konzept sich nicht direkt durch die bereits entwickelten Funktionen ausdrücken lässt, erfindet man dafür eine neue Funktion oder Familie von Funktionen. Beispielsweise hat sich die Darstellung von Zahlen $x$ als Potenzen einer gemeinsamen Basis, zum Beispiel $x=10^y$, als sehr nützlich herausgestellt, um Multiplikationen auf die von Hand leichter ausführbaren Additionen zurückzuführen. Man braucht also die Fähigkeit, die Abhängigkeit des Exponenten $y$ von $x$ auszudrücken, mit anderen Worten, man braucht die Logarithmusfunktion. Spezielle Funktionen wie die Wurzelfunktion und die Logarithmusfunktion werden also zu Bausteinen, die in der Lösung algebraischer oder auch analytischer Probleme verwendet werden können. Die Erfahrung zeigt, dass diese Funktionen immer wieder nützlich sind, es lohnt sich also, ihre Berechnung zum Beispiel in einer Bibliothek zu implementieren. Spezielle Funktionen sind in diesem Sinn eine mathematische Form des informatischen Prinzips des ``code reuse''. Die trigonometrischen Funktionen kann man als Lösungen des geometrischen Problems der Parametrisierung eines Kreises verstehen. Alternativ kann man $\sin x$ und $\cos x$ als spezielle Lösungen der Differentialgleichung $y''=-y$ verstehen. Viele andere Funktionen wie die hyperbolischen Funktionen oder die Bessel-Funktionen sind ebenfalls Lösungen spezieller Differentialgleichungen. Auch die Theorie der partiellen Differentialgleichungen gibt Anlass zu interessanten Lösungsfunktionen. Die Separation des Poisson-Problems in Kugelkoordinaten führt zum Beispiel auf die Kugelfunktionen, mit denen sich beliebige Funktionen auf einer Kugeloberfläche analysieren und synthetisieren lassen. Die Lösungen einer linearer gewöhnlicher Differentialgleichung können oft mit Hilfe von Potenzreihen dargestellt werden. So kann man zum Beispiel die Potenzreihenentwicklung der Exponentialfunktion und der trigonometrischen Funktionen finden. Die Konvergenz einer Potenzreihe wird aber durch Singularitäten eingeschränkt. Komplexe Potenzreihen ermöglichen aber, solche Stellen zu ``umgehen''. Die Theorie der komplex differenzierbaren Funktionen bildet einen allgemeinen Rahmen, mit solchen Funktionen umzugehen und ist zum Beispiel nötig, um die Bessel-Funktionen der zweiten Art zu konstruieren, die ebenfalls Lösungen ger Bessel-Gleichung sind, aber bei $x=0$ eine Singularität aufweisen. Die Stammfunktion $F(x)$ einer gegebenen Funktion $f(x)$ ist natürlich auch die Lösung der besonders einfachen Differentialgleichung $F'=f$. Ein bekanntes Beispiel ist die Stammfunktion der Wahrscheinlichkeitsdichte \[ \varphi(x) = \frac{1}{\sqrt{2\pi}\sigma} e^{-\frac{(x-\mu)^2}{2\sigma^2}}, \] der Normalverteilung, für die aber keine geschlossene Darstellung mit bekannten Funktionen bekannt ist. Sie kann aber durch die Fehlerfunktion \[ \operatorname{erf}(x) = \frac{2}{\sqrt{\pi}} \int_0^x e^{-t^2}\,dt \] dargestellt werden. Mit dem Risch-Algorithmus kann man nachweisen, dass es tatsächlich keine Möglichkeit gibt, die Stammfunktion in geschlossener Form durch die bereits bekannten Funktionen darzustellen, die Definition einer neuen speziellen Funktion ist also der einzige Ausweg. Die Fehlerfunktion ist heute in der Standardbibliothek enthalten auf gleicher Stufe wie Wurzeln, trigonometrische Funktionen, Exponentialfunktionen oder Logarithmen. Die nachstehenden Kapitel sollen die vielfältigen Arten illustrieren, wie diese Prinzipien zu neuen und nützlichen speziellen Funktionen und ihren Anwendungen führen können.