% % polynome.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Polynome \label{buch:potenzen:section:polynome}} \rhead{Polynome} Die wohl einfachsten Funktionen, die sich mit den arithmetischen Operationen konstruieren lassen, sind die Polynome. \begin{definition} \index{Polynom}% Ein {\em Polynome} vom Grad $n$ ist die Funktion \[ p(x) = a_nx^n + a_{n-1}x^{n-1} + \dots + a_2x^2 + a_1x + a_0, \] wobei $a_n\ne 0$ sein muss. Das Polynom heisst {\em normiert}, wenn $a_n=1$ ist. \index{normiert}% \index{Grad eines Polynoms}% \index{Polynom!Grad}% Die Menge aller Polynome mit Koeffizienten in der Menge $K$ wird mit $K[x]$ bezeichnet. \end{definition} Die Menge $K[x]$ ist heisst auch der {\em Polynomring}, weil $K[x]$ \index{Polynomring}% mit der Addition, Subtraktion und Multiplikation von Polynomen eine algebraische Struktur bildet, die man einen Ring mit $1$ nennt. \index{Ring}% Im Folgenden werden wir uns auf die Fälle $K=\mathbb{Q}$, $K=\mathbb{R}$ und $K=\mathbb{C}$ beschränken. Für den Grad eines Polynoms gelten die bekannten Rechenregeln \begin{align*} \deg (a(x) + b(x)) &\le \operatorname{max}(\deg a(x), \deg b(x)) \\ \deg (a(x)\cdot b(x)) &=\deg a(x) + \deg b(x) \end{align*} für beliebige Polynome $a(x),b(x)\in K[x]$. In Abschnitt~\ref{buch:orthogonalitaet:section:orthogonale-funktionen} werden Familien von Polynomen konstruiert werden, die sich durch eine Orthogonalitätseigenschaft auszeichnen. Diese Polynome lassen sich typischerweise auch als Lösungen von Differentialgleichungen finden. Ausserdem werden hypergeometrische Funktionen \[ \mathstrut_pF_q\biggl( \begin{matrix}a_1,\dots,a_p\\b_1,\dots,b_q\end{matrix};z \biggr), \] die in Abschnitt~\ref{buch:rekursion:section:hypergeometrische-funktion} definiert werden, zu Polynomen, wenn mindestens einer der Parameter $a_k$ negativ ganzzahlig ist. Polynome sind also bereits eine vielfältige Quelle von speziellen Funktionen. Viele spezielle Funktionen werden aber komplizierter sein und sich nicht als einfache Polynome ausdrücken lassen. Genau diese Unmöglichkeit rechtfertigt ja, neue Funktionen zu definieren. Es bleibt aber immer noch die Notwendigkeit, effiziente Berechnungsverfahren für die speziellen Funktionen zu konstruieren. Dank des folgenden Satzes kann dies immer mit Polynomen geschehen. \begin{satz}[Weierstrass] \index{Satz!Weierstrass}% \index{Weierstrasse, Karl}% \label{buch:potenzen:satz:weierstrass} \index{Weierstrass, Satz von}% Eine auf einem kompakten Intervall $[a,b]$ stetige Funktion $f(x)$ lässt sich durch eine Folge $p_n(x)$ von Polynomen gleichmässig approximieren. \end{satz} Der Satz sagt in dieser Form nichts darüber aus, wie die Approximationspolynome konstruiert werden sollen. \index{Approximationspolynom}% Von Bernstein gibt es konstruktive Beweise dieses Satzes, \index{Bernstein-Polynom}% welche auch explizit eine Folge von Approximationspolynomen konstruieren. In der späteren Entwicklung werden wir für die meisten speziellen Funktionen Potenzreihen entwickeln, deren Partialsummen ebenfalls als Approximationen dienen können. Weitere Möglichkeiten liefern Interpolationsmethoden der numerischen Mathematik. Diese Betrachtungsweise von Polynomen als Funktionen trägt aber den zusätzlichen algebraischen Eigenschaften des Polynomringes nicht ausreichend Rechnung. Zum Beispiel bedeutet Gleichheit von zwei reellen Funktion $f(x)$ und $g(x)$, dass man $f(x)=g(x)$ für alle $x\in\mathbb{R}$ nachprüfen muss. Für Polynome reicht es jedoch, die Funktionswerte in nur wenigen Punkten zu vergleichen. Dies äussert sich zum Beispiel auch im Prinzip des Koeffizientenvergleichs von Satz~\ref{buch:polynome:satz:koeffizientenvergleich}. Im Gegensatz zu beliebigen Funktionen kann man daher Aussagen über Polynomen immer mit endlich Algorithmen entscheiden. Die nächsten Abschnitte sollen diese algebraischen Eigenschaften zusammenfassen. % % Polynomdivision, Teilbarkeit und ggT % \subsection{Polynomdivision, Teilbarkeit und grösster gemeinsamer Teiler} Der schriftliche Divisionsalgorithmus für Zahlen funktioniert auch für die Division von Polynomen. \index{Polynome!Divisionsalgorithmus}% Zu zwei beliebigen Polynomen $p(x)$ und $q(x)$ lassen sich also immer zwei Polynome $a(x)$ und $r(x)$ finden derart, dass $p(x) = a(x) q(x) + r(x)$. Das Polynom $a(x)$ heisst der {\em Quotient}, $r(x)$ der {\em Rest} der Division. Das Polynom $p(x)$ heisst {\em teilbar} durch $q(x)$, geschrieben \index{teilbar}% \index{Polynome!teilbar}% $q(x)\mid p(x)$, wenn $r(x)=0$ ist. % % Grösster gemeinsamer Teiler % \subsubsection{Grösster gemeinsamer Teiler} Mit dem Begriff der Teilbarkeit geht auch die Idee des grössten gemeinsamen Teilers einher. Ein gemeinsamer Teiler zweier Polynome $a(x)$ und $b(x)$ \index{gemeinsamer Teiler}% ist ein Polynom $g(x)$, welches beide Polynome teilt, also $g(x)\mid a(x)$ und $g(x)\mid b(x)$. \index{grösster gemeinsamer Teiler}% \index{Polynome!grösster gemeinsamer Teiler}% Ein Polynom $g(x)$ heisst {\em grösster gemeinsamer Teiler} von $a(x)$ und $b(x)$, wenn jeder andere gemeinsame Teiler $f(x)$ von $a(x)$ und $b(x)$ auch ein Teiler von $g(x)$ ist. Man beachte, dass die skalaren Vielfachen eines grössten gemeinsamen Teilers ebenfalls grösste gemeinsame Teiler sind, der grösste gemeinsame Teiler ist also nicht eindeutig bestimmt. % % Der euklidische Algorithmus % \subsubsection{Der euklidische Algorithmus} \index{Algorithmus!euklidisch}% \index{euklidischer Algorithmus}% Zur Berechnung eines grössten gemeinsamen Teilers steht wie bei den ganzen Zahlen der euklidische Algorithmus zur Verfügung. Dazu bildet man die Folgen von Polynomen \[ \begin{aligned} a_0(x)&=a(x) & b_0(x) &= b(x) & &\Rightarrow& a_0(x)&=b_0(x) q_0(x) + r_0(x) && \\ a_1(x)&=b_0(x) & b_1(x) &= r_0(x) & &\Rightarrow& a_1(x)&=b_1(x) q_1(x) + r_1(x) && \\ a_2(x)&=b_1(x) & b_2(x) &= r_1(x) & &\Rightarrow& a_2(x)&=b_2(x) q_2(x) + r_2(x) && \\ &&&&&\hspace*{2mm}\vdots&& \\ a_{m-1}(x)&=b_{m-2}(x) & b_{m-1}(x) &= r_{m-2}(x) & &\Rightarrow& a_{m-1}(x)&=b_{m-1}(x)q_{m-1}(x) + r_{m-1}(x) &\text{mit }r_{m-1}(x)&\ne 0 \\ a_m(x)&=b_{m-1}(x) & b_m(x)&=r_{m-1}(x) & &\Rightarrow& a_m(x)&=b_m(x)q_m(x).&& \end{aligned} \] Der Index $m$ ist der Index, bei dem zum ersten Mal $r_m(x)=0$ ist. Dann ist $g(x)=r_{m-1}(x)$ ein grösster gemeinsamer Teiler. % % Der erweiterte euklidische Algorithmus % \subsubsection{Der erweiterte euklidische Algorithmus} \index{Polynome!erweiterter euklidischer Algorithmus}% \index{erweiterter euklidischer Algorithmus}% \index{euklidischer Algorithmus!erweitert}% Die Konstruktion der Folgen $a_n(x)$ und $b_n(x)$ kann in Matrixform kompakter geschrieben werden als \[ \begin{pmatrix} a_k(x)\\ b_k(x) \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} b_{k-1}(x)\\ r_{k-1}(x) \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} 0 & 1\\ 1 & -q_{k-1}(x) \end{pmatrix} \begin{pmatrix} a_{k-1}(x)\\ b_{k-1}(x) \end{pmatrix}. \] Kürzen wir die $2\times 2$-Matrix als \[ Q_k(x) = \begin{pmatrix} 0&1\\1&-q_k(x)\end{pmatrix} \] ab, dann ergibt das Produkt der Matrizen $Q_0(x)$ bis $Q_{m}(x)$ \[ \begin{pmatrix} g(x)\\ 0 \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} r_{m-1}(x)\\ r_{m}(x) \end{pmatrix} = Q_{m}(x) Q_{m-1}(x) \cdots Q_1(x) Q_0(x) \begin{pmatrix} a(x)\\ b(x) \end{pmatrix}. \] Zur Berechnung des Produktes der Matrizen $Q_k(x)$ kann man rekursiv vorgehen mit der Rekursionsformel \[ S_{k}(x) = Q_{k}(x) S_{k-1}(x) \qquad\text{mit}\qquad S_{-1}(x) = \begin{pmatrix} 1 & 0 \\ 0 & 1 \end{pmatrix}. \] Ausgeschrieben bedeutet dies Matrixrekursionsformel \[ S_{k-1}(x) = \begin{pmatrix} c_{k-1} & d_{k-1} \\ c_k & d_k \end{pmatrix} \qquad\Rightarrow\qquad Q_{k}(x) S_{k-1}(x) = \begin{pmatrix} 0&1\\1&-q_k(x) \end{pmatrix} \begin{pmatrix} c_{k-1} & d_{k-1} \\ c_k & d_k \end{pmatrix} = \begin{pmatrix} c_k&d_k\\ c_{k+1}&d_{k+1} \end{pmatrix}. \] Daraus lässt sich für die Matrixelemente die Rekursionsformel \[ \begin{aligned} c_{k+1} &= c_{k-1} - q_k(x) c_k(x) \\ d_{k+1} &= d_{k-1} - q_k(x) d_k(x) \end{aligned} \quad \bigg\} \qquad \text{mit Startwerten} \qquad \bigg\{ \begin{aligned} \quad c_{-1} &= 1, & c_0 &= 0 \\ d_{-1} &= 0, & d_0 &= 1. \end{aligned} \] Wendet man die Matrix $S_m(x)$ auf den Vektor mit den Komponenten $a(x)$ und $b(x)$, erhält man die Beziehungen \[ g(x) = c_{k-1}(x) a(x) + d_{k-1}(x) b(x) \qquad\text{und}\qquad 0 = c_k(x) a(x) + d_k(x) b(x). \] Dieser Algorithmus heisst der erweiterte euklidische Algorithmus. Wir fassen die Resultate zusammen im folgenden Satz. \begin{satz} Zu zwei Polynomen $a(x),b(x) \in K[x]$ gibt es Polynome $g(x),c(x),d(x)\in K[x]$ derart, dass $g(x)$ ein grösster gemeinsamer Teiler von $a(x)$ und $b(x)$ ist, und ausserdem \[ g(x) = c(x)a(x)+d(x)b(x) \] gilt. \end{satz} % % Faktorisierung und Nullstellen % \subsection{Faktorisierung und Nullstellen \label{buch:polynome:subsection:faktorisierung-und-nullstellen}} % wird später gebraucht um bei der Definition der hypergeometrischen Reihe % die Zaehler- und Nenner-Polynome als Pochhammer-Symbole zu entwickeln Ist $\alpha$ eine Nullstelle des Polynoms $a(x)$, also $a(\alpha)=0$. Der Divisionsalgorithmus mit für die Polynome $a(x)$ und $b(x)=x-\alpha$ liefert zwei Polynome $q(x)$ für den Quotienten und $r(x)$ für den Rest mit den Eigenschaften \[ a(x) = q(x) b(x) +r(x) = q(x)(x-\alpha)+r(x) \qquad\text{mit}\qquad \deg r < \deg b(x)=1. \] Der Rest $r(x)$ ist somit eine Konstante. Setzt man $x=\alpha$ ein, folgt \[ 0 = a(\alpha) = q(\alpha)(\alpha-\alpha)+r(\alpha) = r(\alpha), \] der Rest $r(x)$ muss also verschwinden. Für eine Nullstelle $\alpha$ von $a(x)$ ist $a(x)$ durch $(x-\alpha)$ teilbar. Daraus folgt auch, dass ein Polynom $a(x)$ vom Grad $n=\deg a(x)$ höchstens $n$ verschiedene Nullstellen haben kann. Sind $\alpha_1,\dots,\alpha_k$ alle Nullstellen von $a(x)$, dann lässt sich $a(x)$ zerlegen in Faktoren \[ a(x) = (x-\alpha_1)^{m_1} (x-\alpha_2)^{m_2} \cdots (x-\alpha_k)^{m_k} b(x). \] Das Polynom $b(x)\in K[x]$ hat keine Nullstellen in $K$. Wenn zwei Polynome $a(x)$ und $b(x)$ eine gemeinsame Nullstelle $\alpha$ haben, dann ist $(x-\alpha)$ ein Teiler beider Polynome und somit auch ein Teiler eines grössten gemeinsamer Teiler. Insbesondere sind die Nullstellen des grössten gemeinsamen Teilers gemeinsame Nullstellen von $a(x)$ und $b(x)$. % % Koeffizienten-Vergleich % \subsection{Koeffizienten-Vergleich} % Wird gebraucht für die Potenzreihen-Methode % Muss später ausgedehnt werden auf Potenzreihen Wenn zwei Polynome $a(x)$ und $b(x)$ vom Grad $\le n$ die gleichen Koeffizienten haben, dann sind sie selbstverständlich gleich. Weniger klar ist, ob zwei Polynome, die die gleichen Werte für beliebige $x$ haben, auch die gleichen Koeffizienten haben. Wir nehmen also an, dass $a(x)=b(x)$ gilt für jedes $x\in K$ und wollen daraus ableiten, dass die Koeffizienten übereinstimmen müssen. Seien $x_1,\dots,x_n$ verschiedene Elemente in $K$, dann hat das Polynom $p(x)=a(x)-b(x)$, welches Grad $\le n$ hat, die $n$ Nullstellen $x_k$ für $k=1,\dots,n$. $p(x)$ ist also durch alle Polynome $x-x_k$ teilbar. Weil $\deg p\le n$ ist, muss \[ 0 = a(x)-b(x) = p(x) = p_n (x-x_1)(x-x_2)\cdots (x-x_n) \] sein. Ist $y\in K$ verschieden von den Nullstellen $x_i$, dann ist in $y-x_i\ne 0$ für alle $i$. Für das Produkt gilt dann \[ 0 = p(y) = p_n (\underbrace{x-x_1}_{\displaystyle \ne 0}) \cdots (\underbrace{x-x_n}_{\displaystyle \ne 0}), \] so dass $p_n=0$ sein muss, was schliesslich dazu führt, dass alle Koeffizienten von $a(x)-b(x)$ verschwinden. Daraus folgt das Prinzip des Koeffizientenvergleichs: \index{Koeffizientenvergleich}% \index{Polynome!Koeffizientenvergleich}% \begin{satz}[Koeffizientenvergleich] \index{Satz!Koeffizientenvergleich}% \label{buch:polynome:satz:koeffizientenvergleich} Zwei Polynome $a(x)$ und $b(x)$ stimmen genau dann überein, wenn sie die gleichen Koeffizienten haben. \end{satz} Man beachte, dass dieses Prinzip nur funktioniert, wenn es genügend viele verschiedene Elemente in $K$ gibt. Für die endlichen Körper $\mathbb{F}_p$ gilt dies nicht, denn es gilt \[ a(x) = x^p-x\equiv 0\mod p \] für jede Zahl $x\in\mathbb{F}_p$, das Polynom $a(x)$ mit Grad $p$ hat also genau $p$ Nullstellen, es gibt aber keine weitere Nullstelle, mit der man wie oben schliessen könnte, dass $a(x)$ das Nullpolynom ist. % % Berechnung von Polynom-Werten % \subsection{Berechnung von Polynom-Werten} Die naive Berechnung der Werte eines Polynoms $p(x)$ vom Grad $n$ beginnt mit der Berechnung der Potenzen von $x$. Da alle Potenzen benötigt werden, wird man dazu $n-1$ Multiplikationen benötigen. Die Potenzen müssen anschliessend mit den Koeffizienten multipliziert werden, dazu sind weitere $n$ Multiplikationen nötig. Der Wert des Polynoms kann also erhalten werden mit $2n-1$ Multiplikationen und $n$ Additionen. Die Anzahl nötiger Multiplikationen kann mit dem folgenden Vorgehen reduziert werden, welches auch als das {\em Horner-Schema} bekannt ist. \index{Horner-Schema}% \index{Polynome!Horner-Schema}% Statt erst am Schluss alle Terme zu addieren, addiert man so früh wie möglich. Zum Beispiel multipliziert man $(a_nx+a_{n-1})$ mit $x$, was auf die Multiplikationen beider Terme mit $x$ hinausläuft. Mit dieser Idee kann man das Polynom als \[ a_nx^n + a_{n+1}x^{n+1} + \dots + a_1x + a_0 = ((\dots((a_nx+a_{n-1})x+a_{n-2})x+\dots )x+a_1)x+a_0 \] schreiben. Beginnend bei der innersten Klammer sind genau $n$ Multiplikationen und $n$ Additionen nötig, man spart mit diesem Vorgehen also $n-1$ Multiplikationen.