% % zins.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostscheizer Fachhochschule % \section{Exponentialfunktion \label{buch:exponential:section:grenzwert}} \rhead{Exponentialfunktion als Grenzwert} Mit Hilfe von Potenzen und Wurzeln lassen sich die Potenzen $a^x$ für beliebige rationale Zahlen $x=p/q\in\mathbb{Q}$ als \[ a^x = a^{\frac{p}{q}} = \root{q}\of{a^p} \] definieren. Da $x\mapsto a^x$ stetig ist, ergibt sich daraus auch eine stetige Funktion $a^{\bullet}\colon \mathbb{R}\to\mathbb{R}:x\mapsto a^x$. Dies ist aber als Basis für eine neue spezielle Funktion nicht wirklich geeignet, da ausser $x$ auch die Basis variert werden kann. Die arithmetischen Eigenschaften der Potenzfunktion erlauben aber, jede der Funktionen $a^x$ auf jede andere $b^x$ zurückzuführen. Ist $b=a^t$, dann dann ist $b^x = a^{tx}$. Es stellt sich damit die Frage, ob es eine bevorzugte Basis gibt. \subsection{Zins und Eulerscher Grenzwert} Wir ein Kapital $K_0$ mit dem Jahreszinssatz $x=100\%$ verzinst, wächst es jedes Jahr um den Faktor $1+x$ an. Teilt man die Zinsperiode in kleiner Intervall, zum Beispiel Monate oder Tage, und passt auch den Zins entsprechend an, dann wächste das Kapitel in einem Jahr auf \[ K = \biggl(1+\frac{x}{12}\biggr)^{12} \qquad\text{und}\qquad K = \biggl(1+\frac{x}{365}\biggr)^{365} \] an. Für eine Unterteilung in $n$ Zinsperioden ist der Faktor also \[ \biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n. \] Diese Beobachtung hat Jacob Bernoulli 1683 dazu geführt, den Grenzwert \[ \lim_{n\to\infty} \biggl(1+\frac1n\biggr)^n \] zu studieren, die später mit $e$ bezeichnet wurde. Später hat Euler gezeigt, dass \begin{equation} \lim_{n\to\infty}\biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n = e^x \label{buch:exponential:zins:eulerex} \end{equation} gilt. Tatsächlich gilt für ganzzahlige $x$, dass auch die Teilfolge mit $n=xm$ konvergiert, dass also \begin{align*} \lim_{n\to\infty} \biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n &= \lim_{m\to\infty} \biggl(1+\frac{x}{xm}\biggr)^{xm} = \lim_{m\to\infty}\biggl(1+\frac{1}{m}\biggr)^{xm} \intertext{sein muss. Da die Funktion $a\mapsto a^x$ stetig ist, folgt weiter} &=\biggl(\lim_{m\to\infty}\biggl(1+\frac1m\biggr)^m\biggr)^x. \end{align*} Ähnlich kann man für einen Bruch $x=p/q$ vorgehen. Dazu berechnet man die $q$-te Potenz, wobei man wieder verwenden kann, dass, die Funktion $a\mapsto a^q$ stetig ist. So bekommt man \begin{align*} \biggl( \lim_{n\to\infty} \biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n \biggr)^q &= \lim_{n\to\infty} \biggl(+\frac{p}{qn}\biggr)^{nq} = \lim_{m\to\infty} \biggl(1+\frac{p}{m}) \biggr)^m = e^p. \end{align*} Zieht man jetzt die $q$-te Wurzel, bekommt man \[ \lim_{n\to\infty}\biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n = e^{\frac{p}{q}}. \] Da auch die Potenzfunktion $x\mapsto a^x$ stetig ist, folgt schliesslich, dass für beliebige reelle $x\in\mathbb{R}$ die Formel~\eqref{buch:exponential:zins:eulerex} gilt. \subsubsection{Approximation durch Jost Bürgi} Jost Bürgi, Uhrmacher und Mathematiker aus Lichtensteig, war einer der Erfinder der Logartihmen, für die er allerdings noch keinen Namen hatte. Er berechnete eine Tabelle aller Werte von \[ 10^8\cdot(1+10^{-4})^n. \] Schreibt man \[ (1+10^{-4})^n = \biggl(1+\frac{1}{10000}\biggr)^{1000\cdot n\cdot10^{-4}}, \] dann erkennt man, dass Bürgi die Potenzen der Approximation \[ \biggl(1+\frac{1}{1000}\biggr)^{1000} = 2.7181459 \approx 2.7182818 \] von $e$ berechnet hat. Die Wahl dieser Basis hat keine Auswirkungen auf die Genauigkeit der Anwendung seiner Tabellen, da jede andere Basis genauso. \subsubsection{Störungen des Eulerschen Grenzwertes} Der Grenzwert~\eqref{buch:exponential:zins:eulerex} bleibt unverändert, wenn man den Term $x$ um einen zusätzlichen Summanden $x_n$ modifiziert, der schnell genug gegen $0$ geht. \begin{lemma} \label{buch:exponential:zins:perturbedeulerlimit} Sei $x_n$ eine Folge $x_n\in\mathbb{R}$, die gegen $0$ konvergiert. Dann gilt \[ \lim_{n\to\infty}\biggl(1+\frac{x+x_n}{n}\biggr)^n = \lim_{n\to\infty}\biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n = e^x. \] \end{lemma} \begin{proof}[Beweis] Für $\varepsilon>0$ gibt es ein $N$ derart, dass \( |x_n| < \varepsilon \) für alle $n>N$. Da \[ \biggl( 1+\frac{x-\varepsilon}{n} \biggr)^n < \biggl( 1+\frac{x+x_n}{n} \biggr)^n < \biggl( 1+\frac{x+\varepsilon}{n} \biggr)^n \] folgt \[ e^{x-\varepsilon} \ge \lim_{n\to\infty} \biggl( 1+\frac{x+x_n}{n} \biggr)^n \le e^{x+\varepsilon}. \] Da dies für alle $\varepsilon$ gilt, und die Funktion $x\mapsto e^x$ stetig ist, folgt \[ \lim_{n\to\infty} \biggl(1+\frac{x+x_n}{n}\biggr)^n = e^x, \] die Behauptung des Lemmas. \end{proof} \subsubsection{Funktionalgleichung} Die Definition der Exponentialfunktion als Potenz $e^x$ hat automatisch zur Folge, dass für beliebige reelle Zahlen die Funktionalgleichung \[ e^x\cdot e^y = e^{x+y} \] gilt. Dies kann jedoch auch direkt aus dem Grenzwert~\eqref{buch:exponential:zins:eulerex} abgeleitet werden. Dazu rechnet man \begin{align*} \lim_{n\to\infty}\biggl(1+\frac{x}{n}\biggr)^n \cdot \lim_{m\to\infty}\biggl(1+\frac{x}{m}\biggr)^m &= \lim_{n\to\infty} \biggl( \biggl(1+\frac{x}{n}\biggr) \biggl(1+\frac{y}{n}\biggr) \biggr)^n \\ &= \lim_{n\to\infty} \biggl( 1+\frac{x+y}{n}+\frac{xy}{n^2} \biggr)^n \\ &= \lim_{n\to\infty} \biggl( 1+\frac{x+y+xy/n}{n}\biggr)^n. \intertext{Der Term $x_n=xy/n$ konvergiert gegen $0$, daher ist nach dem Lemma~\ref{buch:exponential:zins:perturbedeulerlimit} } &= e^{x+y}. \end{align*} Damit ist die Funktionalgleichung bewiesen. \subsection{Potenzreihe} Die übliche Definition der Exponentialfunktion verwendet eine Potenzreihe. \begin{definition} \label{buch:exponential:zins:exppotenzreihe} Die Potenzreihe \[ \exp(x) = \sum_{k=0}^\infty \frac{x^k}{k!} \] definiert eine Funktion $\exp\colon \mathbb{C}\to\mathbb{C}$. \end{definition} \subsubsection{Funktionalgleichung} Auch für die Potenzreihendefinition lässt sich die Funktionalgleichung direkt zu verifizieren. Das Produkt von $\exp(x)$ und $\exp(y)$ ist \begin{align*} \exp(x)\cdot\exp(y) &= \sum_{k=0}^\infty \frac{x^k}{k!} \cdot \sum_{l=0}^\infty \frac{y^l}{l!} . \intertext{Fasst man die Terme vom Grad $n$ zusammen, erhält man} &= \sum_{n=0}^\infty \sum_{k=0}^n \frac{1}{k!(n-k)!} x^ky^{n-k}. \intertext{Durch Erweitern mit $n!$ wird daraus} &= \sum_{n=0}^\infty \frac{1}{n!} \sum_{k=0}^n \frac{n!}{k!(n-k)!} x^ky^{n-k}. \intertext{Der Quotient von Fakultäten ist der Binomialkoeffizient, so dass die Summe mit dem Binomialsatz vereinfacht werden kann:} &= \sum_{n=0}^\infty \frac{1}{n!} \sum_{k=0}^n \binom{n}{k} x^ky^{n-k} = \sum_{n=0}^\infty \frac{1}{n!} (x+y)^n = \exp(x+y), \end{align*} damit ist die Funktionalgleichung nachgewiesen und es wird klar, dass $\exp(x)$ eine Funktion der Form $a^x$ ist. \subsubsection{$\exp(x)$ und $e^x$} Die Tatsache, dass $\exp(x)$ die Funktionalgleichung erfüllt, reicht nicht aus um zu zeigen, dass $\exp(x)$ und $e^x$ dasselbe sind, da jede beliebige Funktion $a^x$ diese Eigenschaft hat. Wir können nur schliessen, dass $\exp(x)=\exp(1)^x$. Wenn wir zeigen wollen, dass $\exp(x)$ und $e^x$ dasselbe sind, dann müssen wir zeigen, dass $e=\exp(1)$ gilt. Dazu formen wir den Eulerschen Grenzwert wie folgt um: \begin{align*} e=\biggl(1+\frac1n\biggr)^n &= \sum_{k=0}^n \binom{n}{k} \frac{1}{n^{n-k}} = \sum_{k=0}^n \frac{1}{k!} \frac{n(n-1)\cdots(n-k+1)}{n^{n-k}} \\ &= \sum_{k=0}^n \frac{1}{k!} \underbrace{\frac{n}{n}}_{\displaystyle \downarrow\atop\displaystyle 1} \cdot \underbrace{\frac{n-1}{n}}_{\displaystyle\downarrow\atop\displaystyle 1} \cdots \underbrace{\frac{n-k+1}{n}}_{\displaystyle\downarrow\atop\displaystyle 1} \to \sum_{k=0}^\infty \frac{1}{k!} = \exp(1) \end{align*} Damit ist gezeigt, dass $e=\exp(1)$ und damit auch $e^x=\exp(x)$ ist.