% % gamma.tex -- Abschnitt über die Gamma-funktion % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Die Gamma-Funktion \label{buch:rekursion:section:gamma}} \rhead{Gamma-Funktion} Die Fakultät $x!$ kann rekursiv durch \[ x! = x\cdot (x-1)! \qquad\text{und}\qquad 0!=1 \] für alle natürlichen Zahlen $x\in\mathbb{N}$ definiert werden. Äquivalent damit ist eine Funktion \begin{equation} \Gamma(x+1) = x\Gamma(x) \qquad\text{und}\qquad \Gamma(1)=1. \label{buch:rekursion:eqn:gammadef} \end{equation} Kann man eine reelle oder komplexe Funktion finden, die die Funktionalgleichung~\eqref{buch:rekursion:eqn:gammadef} \index{Gamma-Funktion!Funktionalgleichung}% \index{Funktionalgleichung der Gamma-Funktion}% erfüllt und damit die Fakultät auf beliebige Argumente ausdehnt? \subsection{Definition als Grenzwert} Die Fakultät $n!$ ist ein Produkt von $n$ Faktoren, es ist daher natürlich zu versuchen, auch $x!$ als ein Produkt zu schreiben. Allerdings kann es nicht möglich sein, dies mit einer endlichen Anzahl von Faktoren zu machen, denn wenn $x$ grösser wird, muss auch die Zahl der Faktoren grösser werden. Mit jedem zusätzlichen Faktor ist ein Sprung der Werte zu erwarten. Wir erwarten daher entweder ein unendliches Produkt oder einen Ausdreck, bei dem die ``Anzahl'' $x$ der Faktoren im Exponenten steht. In diesem Abschnitt soll zunächst eine solcher Ausdruck gefunden werden. Dieser ist jedoch für die numerische Berechnung absolut ungeeignet, so dass er später in ein unendliches Produkt umgeformt werden muss. \subsubsection{Fakultät als Bruch} Euler hat das Problem, die Fakultät auf beliebige reelle oder komplexe Zahlen auszudehnen, wie folgt angepackt. Zunächst hat er bemerkt, dass für ganzzahlige $x$ und natürliche $n$ \begin{align} x! &= 1\cdot 2\cdot 3\cdot\ldots\cdot x \notag \\ &= \frac{ 1\cdot 2\cdot 3\cdot\ldots\cdot x\cdot (x+1) (x+2)\cdots(x+n) }{ (x+1)(x+2)\cdots(x+n) } \notag \\ &= \frac{ 1\cdot 2\cdot\ldots\cdot n\cdot(n+1)\cdot(n+2)\cdots(n+x) }{ (x+1)(x+2)\cdots(x+n) } \notag \\ &= \frac{n! \cdot (n+1)(n+1)\cdots(n+x)}{(x+1)(x+2)\cdots(x+n)} \label{buch:rekursion:gamma:eqn:fakultaet} \end{align} gilt. Der Plan ist, dies so umzuformen, dass man für $x$ eine beliebige komplexe Zahl einsetzen kann. % % Pochhammer-Symbol % \subsubsection{Pochhammer-Symbol} Die spezielle Form des Nenners und des zweiten Faktors im Zähler von \eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:fakultaet} rechtfertigt die folgende Definition. \begin{definition}[Pochhammer] Für $a\in\mathbb{C}$ und $n\in\mathbb{N}$ heisst das Produkt \[ (a)_n = a\cdot(a+1)\cdot(a+2)\cdots(a+n-1) \] das Pochhammer-Symbol oder die verschobene Fakultät. \index{Pochhammer-Symbol} \end{definition} Die verschobene Fakultät $(a)_n$ hat also genau $n$ Faktoren, deren erster $1$ ist. Die gewöhnliche Fakultät hat $n$ Faktoren, deren erster $1$ ist, also ist $n! = (1)_n$. Der Ausdruck \eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:fakultaet} für $x!$ wird unter Verwendung des Pochhammer-Symbols zu \begin{equation} x! = \frac{n! (n+1)_x}{(x+1)_n}. \label{buch:rekursion:gamma:eqn:produkt2} \end{equation} Leider ist dieser Ausdruck ebenfalls nicht auf beliebige $x$ verallgemeinerungsfähig, denn $(n)_x$ ist nur natürliche $x$ definiert. Der Faktor $(n+1)_x$ enthält $x$ Faktoren beginnend bei $n$. Für grosses $n$ sind diese Faktoren nahe beeinander, man sollte also $(n+1)_x$ durch $n^x$ approximieren können. Wir erweitern daher \eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:produkt2} mit $n^x$ und erhalten \begin{equation} x! = \frac{n!\,n^x}{(x+1)_n}\cdot \frac{(n+1)_x}{n^x}. \label{buch:rekursion:gamma:eqn:produkt3} \end{equation} Der erste Faktor in diesem Ausdruck enthält jetzt nur noch Dinge, die für beliebige $x\in\mathbb{C}$ definiert sind. % % Grenwertdefinition % \subsubsection{Grenzwertdefinition} Der zweite Bruch in \eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:produkt3} besteht aus Termen, die zwar nur für natürliches $x$ definiert sind, wir vermuten aber, dass er für grosses $n$ gegen $1$ konvergiert. Tatsächlich gilt \[ \lim_{n\to\infty} \frac{(n+1)_x}{n^x} = \lim_{n\to\infty} \underbrace{\frac{n+1}{n}}_{\displaystyle\to 1} \cdot \underbrace{\frac{n+2}{n}}_{\displaystyle\to 1} \cdot\ldots\cdot \underbrace{\frac{n+x}{n}}_{\displaystyle\to 1} = 1, \] da $(n+x)/n=1+x/n\to 1$ für grosses $n$. Dies würde die folgende Definition rechtfertigen. \begin{definition} \label{buch:rekursion:gamma:def:definition} Die Gamma-Funktion $\Gamma(x)$ einer Zahl $x\in\mathbb{C}\setminus\{0,-1,-2,-3,\dots\}$ ist der Grenzwert \[ \Gamma(x) = \lim_{n\to\infty} \frac{n!\,n^{x-1}}{(x)_n}. \] \index{Grenzwertdefinition der Gamma-Funktion}% \index{Gamma-Funktion!Grenzwertdefinition}% \end{definition} % % Rekursionsgleichung für Gamma(x) % \subsubsection{Rekursionsgleichung für $\Gamma(x)$} Es ist aus der Herleitung klar, dass $\Gamma(n)=(n-1)!$ sein muss. Wir sollten dies aber auch direkt aus der Definition~\ref{buch:rekursion:gamma:def:definition} ableiten können. Dazu müssen wir nur überprüfen, ob $\Gamma(1)=0!=1$ ist und ob die Rekursionsformel $\Gamma(n)=n\Gamma(n-1)$ gilt. Den Wert $\Gamma(1)$ kann man direkt berechnen: \[ \Gamma(1) = \lim_{n\to\infty} \frac{n!}{(1)_n} = \lim_{n\to\infty} \frac{n!}{n!} = 1 \] wegen $(1)_n=n!$. Für die Rekursionsformel muss man den Grenzwert für $x$ und $x+1$ miteinander vergleichen. Aus dem Term $(x+1)_n$ im Nenner muss man einen Term $(x)_n$ machen, dies ist möglich, indem man mit $x$ erweitert: \begin{align*} \Gamma(x+1) &= \lim_{n\to\infty}\frac{n!\,n^x}{(x+1)_n} = x\lim_{n\to\infty}\frac{n!\,n^x}{x(x+1)_n} = x\lim_{n\to\infty}\frac{n!\,n^x}{(x)_{n+1}}. \intertext{Wir müssen jetzt nur noch zeigen, dass der Grenzwert auf der rechten Seite gegen $\Gamma(x)$ konvergiert, in dessen Definition aber die Potenz $n^{x-1}$ vorkommt. Wir müssen also einen Faktor $n$ los werden und gleichzeitig aus $n$ überall $n+1$ machen, damit der Nenner wieder passt. Dabei wird} \Gamma(x+1) &= x\lim_{n\to\infty} \frac{(n+1)!n^{x-1}}{(x)_{n+1}} \cdot \underbrace{\frac{n}{n+1}}_{\displaystyle\to 1} \\ &= x\lim_{n\to\infty} \underbrace{\frac{(n+1)!(n+1)^{x-1}}{(x)_{n+1}}}_{\displaystyle\to\Gamma(x)} \cdot \frac{n^{x-1}}{(n+1)^{x-1}} \\ &= x \Gamma(x) \lim_{n\to\infty} \biggl(\frac{n}{n+1}\biggr)^{x-1} = x\Gamma(x), \end{align*} Weil $n/(n+1)\to 1$ ist und die Funktion $z\mapsto z^{x-1}$ für alle nach der Definition zulässigen Werte von $x$ eine stetige Funktion ist. % % Gamma-Funktion und Pochhammer-Symbol % \subsubsection{Gamma-Funktion und Pochhammer-Symbol} Durch Iteration der Rekursionsformel für $\Gamma(x)$ folgt jetzt \begin{align*} \Gamma(x+n) &= (x+n-1) \Gamma(x+n-1) \\ &= (x+n-1)(x+n-2)\Gamma(x+n-2) \\ &= \underbrace{ (x+n-1)(x+n-2)\cdots(x-1)(x) }_{\text{$n$ Faktoren}} \Gamma(x) \\ &=(x)_n \Gamma(x). \end{align*} Damit folgt \begin{satz} \index{Satz!Pochhammer-Symbol@Pochhammer-Symbol und $\Gamma(x)$}% \label{buch:rekursion:gamma:satz:gamma-pochhammer} Die Rekursionsformel für die Gamma-Funktion kann geschrieben werden als \[ \Gamma(x+n) = (x)_n \Gamma(x). \] Das Pochhammer-Symbol $(x)_n$ ist für alle natürlichen $n$ gegeben durch \[ (x)_n = \frac{\Gamma(x+n)}{\Gamma(x)}. \] \end{satz} % % Numerische Unzulänglichkeit der Grenzwertdefinition % \subsubsection{Numerische Unzulänglichkeiten der Grenzwertdefinition} \begin{table} \centering %\renewcommand{\arraystretch}{1.1} \begin{tabular}{|>{$}c<{$}|>{$}r<{$}|>{$}l<{$}|>{$}l<{$}|} \hline \log_{10} n& n&n!n^{x-1}/(x)_n\mathstrut & \text{Fehler% \vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \text{\vrule height12pt depth0pt width0pt} 1& 10&1.\underline{7}947392559855804&0.0222854050800643\\ 2& 100&1.\underline{77}46707942830697&0.0022169433775536\\ 3& 1000&1.\underline{772}6754214755178&0.0002215705700017\\ 4& 10000&1.\underline{7724}760067171375&0.0000221558116213\\ 5& 100000&1.\underline{77245}60664742375&0.0000022155687214\\ 6& 1000000&1.\underline{77245}40724623101&0.0000002215567940\\ 7& 10000000&1.\underline{7724538}730613721&0.0000000221558560\\ 8& 100000000&1.\underline{77245385}31233258&0.0000000022178097\\ 9& 1000000000&1.\underline{77245385}11320680&0.0000000002265519\\ 10& 10000000000&1.\underline{772453850}9261316&0.0000000000206155\\ 11&100000000000&1.\underline{77245385}14549788&0.0000000005494627\\ & \infty&1.\underline{7724538509055161}& \text{\vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \end{tabular} \caption{Numerische Berechnung mit der Grenzwertdefinition und rekursiver Berechnung von $n!/(x)_n$ mit Hilfe der Folge \eqref{buch:rekursion:gamma:pnfolge}. Die Konvergenz ist sehr langsam, die Anzahl korrekter Stellen wächst logarithmisch mit $n$. \label{buch:rekursion:gamma:produktberechnung}} \end{table} Die Grenzwertdefinition~\ref{buch:rekursion:gamma:def:definition} ist zwar zweifellos richtig, kann aber nicht für die numerische Berechnung der Gamma-Funktion verwendet werden. Die Existenz des Grenzwertes verwendet, dass $x\ll n$ sein muss, damit $(n+x)/n$ gegenüber $1$ vernachlässigt werden kann. Die Grenzwertdefinition beginnt also erst, vernünftige Approximationen von $\Gamma(x)$ zu geben, wenn $n$ viel grösser also $x$ ist. Andererseits wächst $n!$ sehr schnell an, schon für $n=171$ ist das Resultat grösser als was der \texttt{double}-Datentyp fassen kann. Dies ist aber viel zu kleine, um gute Approximationen auch für kleine Werte von $x$ zu geben. So findet man zum Beispiel für $x=\frac12$ und $n=170$ mit Octave \[ \frac{n!\,n^{x-1}}{(x)_n} = \frac{170!}{\sqrt{170}\cdot \frac12\cdot\frac32\cdot\ldots\cdot\frac{339}{2}} = \frac{7.2574\cdot10^{307}}{13.308\cdot 3.1381\cdot10^{305}} = 1.7738. \] Andererseits werden wir später sehen, dass \[ \Gamma({\textstyle\frac12}) = \sqrt{\pi} = 1.772453850905516 \] ist. Die Approximation mit Hilfe der Grenzwertdefinition kann also grundsätzlich nicht mehr als zwei korrekte Nachkommastellen liefern. Den Quotienten $n!/(x)_n$ kann man mit Hilfe der Rekursionsformel \begin{equation} p_n = p_{n-1}\cdot \frac{n}{x+n-1},\qquad p_0 = 0 \label{buch:rekursion:gamma:pnfolge} \end{equation} etwas effizienter berechnen. Insbesondere umgeht man damit das Problem, dass $n!$ den Wertebereich des \texttt{double} Datentyps sprengt. Der Wert der Gamma-Funktion kann dann durch $p_nn^{x-1}$ approximiert werden. Die Tabelle~\ref{buch:rekursion:gamma:produktberechnung} fasst die Resultate zusammen und zeigt, dass die Konvergenz logarithmisch ist: die Anzahl korrekter Nachkommastellen ist $\log_{10}n$. % % Produktformel % \subsection{Produktformel} Ein möglicher Ausweg aus den numerischen Schwierigkeiten mit der Grenzwertdefinition ist, den schnell wachsenden Faktor $n!$ in den Zähler zu bringen, so dass er der Konvergenz etwas nachhilft. Wir berechnen daher den Kehrwert $1/\Gamma(x)$. \begin{satz} \index{Satz!Produktformel@Produktformel für $\Gamma(x)$}% \label{buch:rekursion:gamma:satz:produktformel} Der Kehrwert der Gamma-Funktion kann geschrieben werden als \begin{equation} \frac{1}{\Gamma(x)} = xe^{\gamma x} \prod_{k=1}^\infty \biggl(1+\frac{x}k\biggr)\,e^{-\frac{x}{k}}, \label{buch:rekursion:gamma:eqn:produktformel} \index{Gamma-Funktion!Produktformel}% \end{equation} wobei $\gamma$ die Euler-Mascheronische Konstante \index{Euler-Mascheronische Konstante}% \[ \gamma = \lim_{n\to\infty} \biggl(\sum_{k=1}^n\frac{1}{k}-\log n\biggr) \] ist. \index{Gamma-Funktion!Produktformel}% \index{Produktformel für die Gamma-Funkion}% \end{satz} \begin{proof}[Beweis] Es sind zwei Dinge nachzuprüfen. Zunächst muss nachgewiesen werden, dass das unendliche Produkt überhaupt konvergiert. Wenn das gesichert ist, muss noch gezeigt werden, dass der Grenzwert tatsächlich $1/\Gamma(x)$ ist. Für die Konvergenz beachtet man, dass die Faktoren des Produkts die Form \begin{align*} \biggl(1+\frac{x}n\biggr)e^{-\frac{x}{n}} &= \biggl(1+\frac{x}n\biggr) \biggl(1-\frac{x}{n}+\frac{x^2}{2n^2}-\frac{x^3}{3!n^3}+\dots\biggr) \\ &= 1-\frac{x^2}{n^2} + \biggl(1+\frac{x}n\biggr) \biggl(\frac{x^2}{2n^2}-\dots\biggr) \\ &= 1-\frac{x^2}{n^2} + \frac{x^2}{2n^2} + O\bigl((\textstyle\frac{x}{n})^2\bigr) \\ &= 1-\frac{x^2}{2n^2} + O\bigl((\textstyle\frac{x}{n})^3\bigr) \end{align*} haben. Da die Reihe \[ \sum_{n=1}^\infty \frac{x^2}{n^2} \] konvergent ist, konvergiert auch das Produkt. % XXX wir brauchen irgendwo das Konvergenzkriterium für ein Produkt Um die Übereinstimmung der Produktformel mit $1/\Gamma(x)$ zu zeigen, berechnen wir \begin{align*} \frac{1}{\Gamma(x)} &= \lim_{n\to\infty} \frac{(x)_n}{n!\,n^{x-1}} = \lim_{n\to\infty} \frac{x(x+1)(x+2)\cdots(x+n-1)}{1\cdot 2\cdot3\cdots (n-1)\cdot n\cdot n^{x-1}} \\ &= x \lim_{n\to\infty} \frac{x+1}{1} \cdot \frac{x+2}{2} \cdots \frac{x+n-1}{n-1} \cdot n^{-x} \\ &= x \lim_{n\to\infty} \biggl(1+\frac{x}{1}\biggr) \cdot \biggl(1+\frac{x}{2}\biggr) \cdots \biggl(1+\frac{x}{n-1}\biggr) \cdot e^{-x\log n} \\ &= x \prod_{k=1}^{n-1} \biggl(1+\frac{x}{k}\biggr) e^{-\frac{x}{k}} e^{\frac{x}{k}} e^{-x\log n} \\ &= x \biggl( \lim_{n\to\infty} \prod_{k=1}^{n-1} \biggl(1+\frac{x}{k}\biggr) e^{-\frac{x}{k}} \biggr) \cdot \biggl( \lim_{n\to\infty} e^{x\bigl(\sum_{k=1}^{n-1}\frac{1}{k} - \log n\bigr)} \biggr) \end{align*} Der Klammerausdruck im Exponent des letzten Faktors auf der rechten Seite konvergiert nach Definition der Euler-Mascheronischen Konstanten gegen $\gamma$, somit folgt \[ \frac{1}{\Gamma(x)} = xe^{\gamma x}\prod_{k=1}^\infty \biggl(1+\frac{x}{k}\biggr)e^{-\frac{x}{k}}, \] wie behauptet. Damit ist Satz~\ref{buch:rekursion:gamma:satz:produktformel} vollständig bewiesen. \end{proof} \begin{table} \centering \begin{tabular}{|>{$}c<{$}|>{$}r<{$}|>{$}c<{$}|>{$}c<{$}|} \hline k & n & \Gamma(\frac12,n) & \Gamma(\frac12) - \Gamma(\frac12,n)% \text{\vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \text{\vrule height12pt depth0pt width0pt} 1& 10& 1.\underline{7}518166478& -0.0206372031 \\ 2& 100& 1.\underline{77}02543372& -0.0021995137 \\ 3& 1000& 1.\underline{772}2324556& -0.0002213953 \\ 4& 10000& 1.\underline{7724}316968& -0.0000221541 \\ 5& 100000& 1.\underline{77245}16354& -0.0000022156 \\ 6&1000000& 1.\underline{772453}6293& -0.0000002216 \\ \infty& & 1.\underline{7724538509}& \text{\vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \end{tabular} \caption{Werte $\Gamma(\frac12,n)$ von $\Gamma(\frac12)$ berechnet mit $n=10^k$ Faktoren der Produktformel~\eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:produktformel} und der zugehörige Fehler. Die korrekten Nachkommastellen sind unterstrichen. Die Konvergenz ist genau gleich langsam wie in der Berechnung mit Hilfe der Grenzwert-Definition in Tabelle~\ref{buch:rekursion:gamma:produktberechnung}. \label{buch:rekursion:gamma:gammatabelle}} \end{table} Um zu zeigen, dass die Produktform tatsächlich besser geeignet ist, sind in der Tabelle~\ref{buch:rekursion:gamma:gammatabelle} die Resultate der numerischen Rechnung bis $n=1000000$ zusammengestellt. Die Produktformel kann gute Werte von $\Gamma(x)$ auch für derart grosse Werte von $n$ problemlos berechnen. Der Fehler der numersichen Approximation ist von der Grössenordnung $O(1/n)$ wie das auf Grund des verwendeten Konvergenzkriteriums zu erwarten war. Die Anzahl zu berücksichtigender Terme wächst daher exponentiall mit der Anzahl gewünschter Stellen an, was für praktische Zwecke zu langsam ist. Für die numersiche Berechnung der Gamma-Funktion ist die Produktformel daher im Allgemeinen nicht geeignet. % % Integralformel für die Gamma-Funktion % \subsection{Integralformel für die Gamma-Funktion} Euler hat die folgende Integraldefinition der Gamma-Funktion gegeben. \begin{definition} \label{buch:rekursion:def:gamma} Die Gamma-Funktion ist die Funktion \[ \Gamma \colon \{z\in\mathbb{C} \mid \operatorname{Re}z>0\} \to \mathbb{C} : z \mapsto \Gamma(z) = \int_0^\infty t^{z-1}e^{-t}\,dt \] \index{Gamma-Funktion!Integraldefinition}% \index{Integraldefinition der Gamma-Funktion}% \end{definition} Man beachte, dass das Integral für $x=0$ nicht definiert ist, eine Potenzreihenentwicklung um einen Punkt $x_0$ auf der positiven reellen Achse kann also höchstens den Konvergenzradius $\varrho=|x_0|$ haben. Die Definition~\ref{buch:rekursion:def:gamma} wird erst später in \eqref{buch:rekursion:gamma:integralbeweis} auf Seite~\pageref{buch:rekursion:gamma:integralbeweis} gegeben. Im Folgenden wird zunächst verifiziert, dass die Integraldarstellung die richtigen Werte für natürliche Argumente hat, es wird aber auch gezeigt, dass dies nicht ausreicht um zu schliessen, dass die Integralformel mit der früher definierten Gamma-Funktion übereinstimmt. % % Funktionalgleichung für die Integraldefinition % \subsubsection{Funktionalgleichung für die Integraldefinition} Tatsächlich ist es einfach nachzuprüfen, dass die Funktionalgleichung der Gamma-Funktion auch für die Definition~\ref{buch:rekursion:def:gamma} Korrekt ist. Dazu ist zunächgst nachzurechnen, dass mindestens ein Wert der neuen Definition übereinstimmt mit der alten Definnition, zum Beispiel der Wert \[ \Gamma(1) = \int_0^\infty t^{1-1}e^{-t}\,dt = \biggl[ -e^{-t} \biggr]_0^\infty = 1. \] Ausserdem muss die Funktionalgleichung erfüllt sein, also \begin{align*} \Gamma(z) &= \int_0^\infty \underbrace{t^{z-1}}_{\displaystyle\uparrow} \underbrace{e^{-t}}_{\displaystyle\downarrow} \,dt = \underbrace{\biggl[ \frac{1}{z} t^z e^{-t} \biggr]_0^\infty}_{\displaystyle=0} + \frac{1}{z} \int_0^\infty t^z e^{-t} \,dt = \frac{1}{z}\Gamma(z+1) \\ \Rightarrow\qquad z\Gamma(z)&=\Gamma(z+1). \end{align*} Dies beweist aber nur, dass die beiden Definitionen für positiv ganzzahlige Argumente übereinstimmen. Der folgende Abschnitt macht deutlich, dass es sehr viele Funktionen gibt, die ebenfalls die Funktionalgleichung erfüllen. Eine vollständige Rechtfertigung für diese Definition wird später in Abschnitt~\ref{buch:rekursion:gamma:subsection:integralbeweis} in Formel~\eqref{buch:rekursion:gamma:integralbeweis} auf Seite~\pageref{buch:rekursion:gamma:integralbeweis} gegeben. \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/040-rekursion/images/gammaplot.pdf} \caption{Graph der Gamma-Funktion $z\mapsto\Gamma(z)$ und der alternativen Funktion $\Gamma(z)+\sin(\pi z)$, die für ganzzahlige Argumente ebenfalls die Werte der Fakultät annimmt. \label{buch:rekursion:fig:gamma}} \end{figure} % % Der Wert Gamma(1/2) % \subsubsection{Der Wert $\Gamma(\frac12)$} Die Integraldarstellung kann dazu verwendet werden, $\Gamma(\frac12)$ zu berechnen. \index{Gamma-Funktion!WertGamma12@Wert von $\Gamma(\frac12)$}% Dazu verwendet man die Substition $t=s^2$ in der Integraldefinition der Gamma-Funktion und berechnen \begin{align} \Gamma({\textstyle\frac12}) &= \int_0^\infty t^{-\frac12} e^{-t}\,dt = \int_0^\infty s^{-1} e^{-s^2}\cdot 2s\,ds = 2\int_0^\infty e^{-s^2}\,ds = \int_{-\infty}^\infty e^{-s^2}\,ds = \sqrt{\pi}. \label{buch:rekursion:gamma:wert12} \end{align} Der Integrand im letzten Integral ist die Wahrscheinlichkeitsdichte einer Normalverteilung, deren Integral wohlbekannt ist. % % Alternative Lösungen % \subsubsection{Alternative Lösungen der Funktionalgleichung~\ref{buch:rekursion:eqn:gammadef}} Die Funktion $\Gamma(z)$ ist nicht die einzige Funktion, die natürlichen Zahlen die Werte $\Gamma(n+1) = n!$ der Fakultät annimmt. Indem man eine beliebige Funktion $f(z)$ addiert, die auf alle natürlichen Zahlen verschwindet, also $f(n)=0$ für $n\in\mathbb{N}$, erhält man eine weitere Funktion, die auf natürlichen Zahlen die Werte der Fakultät annimmt. Ein Beispiel einer solchen Funktion ist \begin{equation} z\mapsto f(z)=\Gamma(z) + \sin \pi z, \label{buch:rekursion:eqn:gammaalternative} \end{equation} die Funktion $f(z)=\sin\pi z$ verschwindet sogar auf allen ganzen Zahlen. In Abbildung~\ref{buch:rekursion:fig:gamma} ist die Gamma-Funktion in rot geplotet, die Funktion~\eqref{buch:rekursion:eqn:gammaalternative} in grün. Die Punkte $(n,(n-1)!)$ sind in blau bezeichnet, sie sind beiden Graphen gemeinsam. In Abschnitt~\ref{buch:funktionentheorie:subsection:satz-von-carlson} wir mit Mitteln der komplexen Funktionentheorie gezeigt, dass eine Funktion, die für ganzzahlige Argument mit $\Gamma(x)$ zusammenfällt und sich im Rest der rechten Halbebene nur durch eine beschränkte Funktion von $\Gamma(x)$ unterscheidet, mit $\Gamma(x)$ identisch sein muss. Von Wielandt stammt das folgende, noch etwas speziellere Resultat, welches hier nicht bewiesen wird. \begin{satz}[Wielandt] \index{Satz!von Wielandt}% \index{Wielandt, Satz von}% Ist $f(z)$ eine für $\operatorname{Re}z>0$ definiert Funktion mit den folgenden drei Eigenschaften \begin{enumerate} \item $f(1)=1$ \item $f(z+1)=zf(z)$ für $\operatorname{Re}z>0$ \item $f(z)$ ist beschränkt im Streifen $1\le \operatorname{Re}z< 2$ \end{enumerate} Dann ist $ f(z) = \Gamma(z) $. \end{satz} % XXX Gamma in the interval (1,2) %Man beachte, dass % % Laplace-Transformierte der Potenzfunktion % \subsubsection{Laplace-Transformierte der Potenzfunktion} Die Integraldarstellung der Gamma-Funktion erlaubt jetzt auch, die Laplace-Transformation der Potenzfunktion zu berechnen. \index{Laplace-Transformierte der Potenzfunktion}% \begin{satz} \index{Satz!Laplace-Transformierte der Potenzfunktion}% Die Laplace-Transformierte der Potenzfunktion $f(t)=t^\alpha$ ist \[ (\mathscr{L}f)(s) = \frac{1}{s^\alpha} \Gamma(\alpha+1). \qedhere \] \end{satz} \begin{proof}[Beweis] Die Laplace-Transformierte ist das Integral \[ (\mathscr{L}f)(s) = \int_0^\infty t^\alpha e^{-st}\,dt \] Durch die Substitution $st = u$ oder $t=\frac{u}{s}$ wird daraus \[ (\mathscr{L}f)(s) = \int_0^\infty \biggl(\frac{u}{s}\biggr)^\alpha e^{-u}\,du = \frac{1}{s^\alpha}\int_0^\infty u^{\alpha} e^{-u}\,du = \frac{1}{s^\alpha} \Gamma(\alpha+1). \qedhere \] \end{proof} % % Pol erster Ordnung bei z=0 % \subsubsection{Pol erster Ordnung bei $z=0$} \index{Gamma-Funktion!Pol@Pol bei $z=0$}% Wir haben zu prüfen, dass sowohl der Wert $\Gamma(1)$ korrekt ist als auch die Rekursionsformel~\eqref{buch:rekursion:eqn:gammadef} gilt. Der Wert für $z=1$ ist \begin{align*} \Gamma(1) &= \int_0^\infty t^{1-1}e^{-t}\,dt = \left[ -e^{-t} \right]_0^\infty = 1. \end{align*} Für die Rekursionsformel kann mit Hilfe von partieller Integration bekommen: \begin{align*} \Gamma(z+1) &= \int_0^\infty t^{z+1-1}e^{-t}\,dt = \biggl[-t^{z}e^{-t}\biggr]_0^\infty + \int_0^\infty z t^{z-1}e^{-t}\,dt \\ &= z \int_0^\infty t^{z-1}e^{-t}\,dt = z \Gamma(z). \end{align*} Für $00$ folgt aus der Funktionalgleichung \[ \Gamma(z) = \frac{\Gamma(1+z)}{z}. \] Da $\Gamma(1)=1$ ist und $\Gamma$ eine in einer Umgebung von $1$ stetige Funktion ist, kann sie in der Form \( \Gamma(1+z)=\Gamma(1) + zf(z) \) schreiben, wobei $f(z)$ eine differenzierbare Funktion ist mit $f'(1)=\Gamma'(1)$. Daraus ergibt sich für $\Gamma(z)$ der Ausdruck \[ \Gamma(z) = \frac{\Gamma(1)}{z} + f(z) = \frac{1}{z} + f(z). \] Die Gamma-Funktion hat daher an der Stelle $z=0$ einen Pol erster Ordnung. % % Ausdehnung auf Re(z) < 0 % \subsubsection{Ausdehnung auf $\operatorname{Re}z<0$} \index{Gamma-Funktion!analytische Fortsetzung}% \index{analytische Fortsetzung der Gamma-Funktion}% Die Integralformel konvergiert nicht für $\operatorname{Re}z\le 0$. Durch analytische Fortsetzung, wie sie im Abschnitt~\ref{buch:funktionentheorie:section:fortsetzung} beschrieben wird, kann die Funktion auf ganz $\mathbb{C}$ ausgedehnt werden, mit Ausnahme einzelner Pole. Die Funktionalgleichung gilt natürlich für alle $z\in\mathbb{C}$, für die $\Gamma(z)$ definiert ist, nicht nur für diejenigen $z$, für die das Integral konvergiert. Wir können Sie daher verwenden, um das Argument in den Bereich zu bringen, wo das Integral zur Berechnung verwendet werden kann. Dazu berechnen wir \[ \Gamma(z) = \frac{\Gamma(z+1)}{z} = \frac{\Gamma(z+2)}{z(z+1)} = \frac{\Gamma(z+3)}{z(z+1)(z+2)} = \dots = \frac{\Gamma(z+n)}{z(z+1)(z+2)\cdots(z+n-1)} = \frac{\Gamma(z+n)}{(z)_n}. \] Dies gilt für jedes natürlich $n$. Für $n$ gross genug, genauer für $n\ge |\operatorname{Re}z|$, ist $\operatorname{Re}(z+n)=\operatorname{Re}z + n>0$ und damit kann $\Gamma(z+n)$ mit der Integralformel berechnet werden. Die Gamma-Funktion hat keine Nullstellen, aber in der Nähe von $z=-n$ hat der Nenner eine Nullstelle erster Ordnung. Somit hat $\Gamma(z)$ Pole erster Ordnung bei den negativen ganzen Zahlen und bei $0$, wie sie in Abbildung~\ref{buch:rekursion:fig:gamma} gezeigt werden. % % Numerische Berechnung % \subsubsection{Numerische Berechnung} \begin{table} \centering \begin{tabular}{|>{$}c<{$}|>{$}r<{$}|>{$}c<{$}>{$}c<{$}|} \hline k & n=10^k & y(n) & y(n) - \Gamma(\frac{5}{3})  \text{\vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \text{\vrule height12pt depth0pt width0pt} 1 & 10 & 0.0000000000 & -0.9027452930 \\ 2 & 100 & 0.3319129461 & -0.5708323468 \\ 3 & 1000 & 0.\underline{902}5209490 & -0.0002243440 \\ 4 & 10000 & 0.\underline{902745}1207 & -0.0000001723 \\ 5 & 100000 & 0.\underline{902745}0962 & -0.0000001968 \\ 6 & 1000000 & 0.\underline{902745}0962 & -0.0000001968 \\ & \infty & 0.\underline{9027452929} & \text{\vrule height12pt depth6pt width0pt} \\ \hline \end{tabular} \caption{Resultate der Berechnung von $\Gamma(\frac{5}{3})$ mit Hilfe der Differentialgleichung \eqref{buch:rekursion:gamma:eqn:gammadgl}. Die korrekten Stellen sind unterstrichen. Es sind immerhin sechs korrekte Stellen gefunden, wobei nur 337 Auswertungen des Integranden notwendig waren. \label{buch:rekursion:gamma:table:gammaintegral}} \end{table} Im Prinzip könnte die Integraldefinition der numerischen Berechnung entgegenkommen. Um diese Hypothese zu prüfen, berechnen wir das Integral für $z=\frac53$ mit Hilfe der äquivalenten Differentialgleichungen \begin{equation} \dot{y}(t) = t^{z-1}e^{-t} \qquad \text{mit Anfangsbedingung $y(0)=0$}. \label{buch:rekursion:gamma:eqn:gammadgl} \end{equation} \index{Gamma-Funktion!Loesung@Lösung mit Differentialgleichung} Der gesuchte Wert ist der Grenzwert $\lim_{t\to\infty} y(t)$. In der Tabelle~\ref{buch:rekursion:gamma:table:gammaintegral} sind die Werte von $y(10^k)$ sowie die Differenzen $y(10^k) - \Gamma(\frac{5}{3})$ zusammengefasst. Die Genauigkeit erreicht sechs korrekte Nachkommastellen mit nur 337 Auswertungen des Integranden. Eine noch wesentlich effizientere Auswertung des $\Gamma$-Integrals mit Hilfe der Gauss-Laguerre-Quadratur wird in Kapitel~\ref{chapter:laguerre} von Patrick Müller dargestellt. % % % \input{chapters/040-rekursion/bohrmollerup.tex} \input{chapters/040-rekursion/integral.tex}