% % differentialalgebren.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Differentialkörper und der Satz von Liouville \label{buch:integrale:section:dkoerper}} \rhead{Differentialkörper und der Satz von Liouville} Das Problem der Darstellbarkeit eines Integrals in geschlossener Form verlangt zunächst einmal nach einer Definition dessen, was man als ``geschlossene Form'' akzeptieren will. Die sogenannten {\em elementaren Funktionen} von Abschnitt~\ref{buch:integrale:section:elementar} bilden dafür den theoretischen Rahmen. Das Problem ist dann die Frage zu beantworten, ob ein Integral eine Stammfunktion hat, die eine elementare Funktion ist. Der Satz von Liouville von Abschnitt~\ref{buch:integrale:section:liouville} löst das Problem. \subsection{Eine Analogie \label{buch:integrale:section:analogie}} % XXX Analogie: Formel für Polynom-Nullstellen % XXX Stammfunktion als elementare Funktion Das Analysis-Problem, eine Stammfunktion zu finden, ist analog zum wohlbekannten algebraischen Problem, Nullstellen von Polynomen zu finden. Wir entwickeln diese Analogie in etwas mehr Detail, um zu sehen, ob man aus dem algebraischen Problem etwas über das Problem der Analysis lernen kann. Für ein Polynom $p(X) = a_nX^n+a_{n-1}X^{n-1}+\dots+a_1X+a_0\in\mathbb{C}[X]$ mit Koeffizienten $a_k\in\mathbb{C}$ ist es sehr einfach, für jede beliebige komplexe Zahl $z\in\mathbb{C}$ den Wert $p(z)$ des Polynoms auszurechnen. Ein paar wenige Rechenregeln genügen dazu, man kann leicht einem Kind beibringen, mit einem Taschenrechner so einen Wert auszurechnen. Ähnlich sieht es mit der Ableitungsoperation aus. Einige wenige Ableitungsregeln, die man in der Analysis~I lernt, erlauben, auf mehr oder weniger mechanische Art und Weise, jede beliebige Funktion abzuleiten. Man kann auch leicht einen Computer dazu programmieren, solche Ableitungen symbolisch zu berechnen. Aus dem Fundamentalsatz der Algebra, der von Gauss vollständig bewiesen wurde, ist bekannt, dass jedes Polynom mit Koeffizienten in $\mathbb{C}$ genau so viele Lösungen in $\mathbb{C}$, wie der Grad des Polynoms angibt. Dies ist aber ein Existenzsatz, er sagt nichts darüber aus, wie man diese Lösungen finden kann. In Spezialfällen, wie zum Beispiel für quadratische Polynome, gibt es spezialsierte Lösungsverfahren, mit denen man Lösungen angeben kann. Natürlich existieren numerische Methoden wie zum Beispiel das Newton-Verfahren, mit dem man Nullstellen von Polynomen beliebig genau bestimmen kann. Der Fundamentalsatz der Integralrechnung besagt, dass jede stetige Funktion eine Stammfunktion hat, die bis auf eine Konstante eindeutig bestimmt ist. Auch dieser Existenzsatz gibt keinerlei Hinweise darauf, wie man die Stammfunktion finden kann. In der Analysis-Vorlesung lernt man viele Tricks, die in einer beindruckenden Zahl von Spezialfällen ermöglichen, ein passende Funktion anzugeben. Man lernt auch numerische Verfahren kennen, mit denen sich Werte der Stammfunktion, also bestimmte Integrale, mit beliebiger Genauigkeit finden kann. Die numerische Lösung des Nullstellenproblems ist insofern unbefriedigend, als sie nur schwer eine Diskussion der Abhängigkeit der Nullstellen von den Koeffizienten des Polynoms ermöglichen. Eine Formel wie die Lösungsformel für die quadratische Gleichung stellt genau für solche Fälle ein ideales Werkzeug bereit. Was man sich also wünscht ist nicht nur einfach eine Lösung, sondern eine einfache Formel zur Bestimmung aller Lösungen. Im Zusammenhang mit algebraischen Gleichungen erwartet man eine Formel, in der nur arithmetische Operationen und Wurzeln vorkommen. Für quadratische Gleichungen ist so eine Formel seit dem Altertum bekannt, Formeln für die kubische Gleichung und die Gleichung vierten Grades wurden im 16.~Jahrhundert von Cardano bzw.~Ferrari gefunden. Erst viel später haben Abel und Ruffini gezeigt, dass so eine allgemeine Formel für Polynome höheren Grades als 4 nicht existiert. Die Galois-Theorie, die auf den Ideen von Évariste Galois beruht, stellt eine vollständige Theorie unter anderem für die Lösbarkeit von Gleichungen durch Wurzelausdrücke dar. Numerische Integralwerte haben ebenfalls den Nachteil, dass damit Diskussionen wie die Abhängigkeit von Parametern eines Integranden nur schwer möglich sind. Was man sich daher wünscht ist eine Formel für die Stammfunktion, die Werte als Zusammensetzung gut bekannter Funktionen wie der Exponential- und Logarithmus-Funktionen oder der trigonometrischen Funktionen sowie Wurzeln, Potenzen und den arithmetischen Operationen. Man sagt, man möchte die Stammfunktion in ``geschlossener Form'' dargestellt haben. Tatsächlich ist dieses Problem auch zu Beginn des 19.~Jahrhunderts von Joseph Liouville genauer untersucht worden. Er hat zunächst eine Klasse von ``elementaren Funktionen'' definiert, die als Darstellungen einer Stammfunktion in Frage kommen. Der Satz von Liouville besagt dann, dass nur Funktionen mit einer ganz speziellen Form eine elementare Stammfunktion haben. Damit wird es möglich, zu entscheiden, ob ein Integrand wie $e^{-x^2}$ eine elementare Stammfunktion hat. Seit dieser Zeit weiss man zum Beispiel, dass die Fehlerfunktion nicht mit den bekannten Funktionen dargestellt werden kann. Mit dem Aufkommen der Computer und vor allem der Computer-Algebra-System (CAS) wurde die Frage nach der Bestimmung einer Stammfunktion erneut aktuell. Die ebenfalls weiter entwickelte abstrakte Algebra hat ermöglicht, die Ideen von Liouville in eine erweiterte, sogenannte differentielle Galois-Theorie zu verpacken, die eine vollständige Lösung des Problems darstellt. Robert Henry Risch hat in den Sechzigerjahren auf dieser Basis einen Algorithmus entwickelt, mit dem es möglich wird, zu entscheiden, ob eine Funktion eine elementare Stammfunktion hat und diese gegebenenfalls auch zu finden. Moderne CAS implementieren diesen Algorithmus in Teilen, besonders weit zu gehen scheint das quelloffene System Axiom. Der Risch-Algorithmus hat allerdings eine Achillesferse: er benötigt eine Method zu entscheiden, ob zwei Ausdrücke übereinstimmen. Dies ist jedoch ein im Allgemeinen nicht entscheidbares Problem. Moderne CAS treiben einigen Aufwand, um die Gleichheit von Ausdrücken zu entscheiden, sie können das Problem aber grundsätzlich nicht vollständig lösen. Damit kann der Risch-Algorithmus in praktischen Anwendungen das Stammfunktionsproblem ebenfalls nur mit Einschränkungen lösen, die durch die Fähigkeiten des Ausdrucksvergleichs in einem CAS gesetzt werden. Im Folgenden sollen elementare Funktionen definiert werden, es sollen die Grundideen der differentiellen Galois-Theorie zusammengetragen werden und der Satz von Liouvill vorgestellt werden. An Hand der Fehler-Funktion soll dann gezeigt werden, wie man jetzt einsehen kann, dass die Fehlerfunktion nicht elementar darstellbar ist. Im nächsten Abschnitt dann soll der Risch-Algorithmus skizziert werden. \subsection{Elementare Funktionen \label{buch:integrale:section:elementar}} Es soll die Frage beantwortet werden, welche Stammfunktionen sich in ``geschlossener Form'' oder durch ``wohlbekannte Funktionen'' ausdrücken lassen. Welche Funktionen dabei als ``wohlbekannt'' gelten dürfen ist ziemlich willkürlich. Sicher möchte man Potenzen und Wurzeln, Logarithmus und Exponentialfunktion, aber auch die trigonometrischen Funktionen dazu zählen dürfen. Ausserdem will man beliebig mit den arithmetischen Operationen rechnen. So entsteht die Menge der Funktionen, die man ``elementar'' nennen will. In der Menge der elementaren Funktionen möchte man jetzt Stammfunktionen ausgewählter Funktionen suchen. Dazu muss man von jeder Funktion ihre Ableitung kennen. Die Ableitungsoperation macht aus der Funktionenmenge eine differentielle Algebra. Der Satz von Liouville (Satz~\ref{buch:integrale:satz:liouville1}) liefert Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn eine Funktion eine elementare Stammfunktion hat. Sind diese Bedingungen nicht erfüllbar, ist auch keine elementare Stammfunktion möglich. In den folgenden Abschnitten soll die differentielle Algebra der elementaren Funktionen konstruiert werden. \subsubsection{Körper} Die einfachsten Funktionen sind die die Konstanten, für die wir für die nachfolgenden Betrachtungen fast immer die komplexen Zahlen $\mathbb{C}$ zu Grunde legen wollen. Dabei ist vor allem wichtig, dass sich darin alle arithmetischen Operationen durchführen lassen mit der einzigen Ausnahme, dass nicht durch $0$ dividiert werden darf. Man nennt $\mathbb{C}$ daher ein {\em Körper}. \index{Körper}% \label{buch:integrale:def:koerper} \subsubsection{Polynome und rationale Funktionen} Die Polynome einer Variablen beschreiben eine Menge von Funktionen, in der Addition, Subtraktion, Multiplikation von Funktionen und Multiplikation mit komplexen Zahlen uneingeschränkt möglich ist. Wir bezeichen wie früher die Menge der Polynome in $z$ mit $\mathbb{C}[z]$. Die Division ist erst möglich, wenn man beliebige Brüche zulässt, deren Zähler und Nenner Polynome sind. Die Menge \[ \mathbb{C}(z) = \biggl\{ \frac{p(z)}{q(z)} \;\bigg|\; p,q\in \mathbb{C}[z] \biggr\} \] heisst die Menge der {\em rationalen Funktionen}. \label{buch:integrale:def:rationalefunktion} \index{Funktion, rationale}% \index{rationale Funktion}% In ihr sind jetzt alle arithmetischen Operationen ausführbar ausser natürlich die Division durch die Nullfunktion. Die rationalen Funktionen bilden also wieder eine Körper. Die Tatsache, dass die rationalen Funktionen einen Körper bilden bedeutet auch, dass die Konstruktion erneut durchgeführt werden kann. Ausgehend von einem beliebigen Körper $K$ können wieder zunächst die Polynome $K[X]$ und anschliesen die rationalen Funktionen $K[X]$ in der neuen Variablen, jetzt aber mit Koeffizienten in $K$ gebildet werden. So entstehen Funktionen von mehreren Variablen und, indem wir für die neue Variable $X$ zum Beispiel die im übernächsten Abschnitt betrachtete Wurzel $X=\sqrt{z}$ einsetzen, rationale Funktionen in $z$ und $\sqrt{z}$. Solche Funktionenkörper werden im folgenden mit geschweiften Buchstaben $\mathscr{D}$ bezeichnet. \index{Funktionenkörper}% \subsubsection{Ableitungsoperation} In allen Untersuchungen soll immer die Ableitungsoperation mit berücksichtigt werden. In unserer Betrachtungsweise spielt es keine Rolle, dass die Ableitung aus einem Grenzwert entsteht, es sind nur die algebraischen Eigenschaften wichtig. Diese sind in der folgenden Definition zusammengefasst. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:derivation} Ein {\em Ableitungsoperator} oder eine {\em Derivation} einer Algebra $\mathscr{D}$ von Funktionen ist eine lineare Abbildung \[ \frac{d}{dz} \colon \mathscr{D} \to \mathscr{D} : f \mapsto \frac{df}{dz} = f', \] die zusätzlich die Produktregel \begin{equation} \frac{d}{dz} (fg) = \frac{df}{dz} \cdot g + f \cdot \frac{dg}{dz} \qquad\Leftrightarrow\qquad (fg)' = f' g + fg' \label{buch:integrale:eqn:produktregel} \end{equation} \index{Produktregel}% erfüllt. Die Funktion $f'\in \mathscr{D}$ heisst auch die {\em Ableitung} von $f\in\mathscr{D}$. \index{Derivation}% \index{Ableitungsoperator}% \index{Ableitung}% \end{definition} Die Produktregel hat zum Beispiel auch die bekannten Quotientenregel zur Folge. Dazu betrachten wir das Produkt $f= (f/g)\cdot g$ und leiten es mit Hilfe der Produktregel ab: \[ \frac{d}{dz}f = \frac{d}{dz} \biggl( \frac{f}{g}\cdot g \biggr) = {\color{darkred} \frac{d}{dz} \biggl( \frac{f}{g} \biggr)} \cdot g + \frac{f}{g}\cdot \frac{d}{dz}g. \] Jetzt lösen wir nach der {\color{darkred}roten} Ableitung des Quotienten auf und erhalten \begin{equation} \biggl(\frac{f}{g}\biggr)' = \frac{d}{dz}\biggl(\frac{f}{g}\biggr) = \frac1g\biggl( \frac{d}{dz}f - \frac{f}{g}\cdot \frac{d}{dz}g \biggr) = \frac{1}{g} \biggl( f'-\frac{fg'}{g} \biggr) = \frac{f'g-fg'}{g^2}. \label{buch:integrale:eqn:quotientenregel} \end{equation} Dies ist die Quotientenregel. Aus der Produktregel folgt natürlich sofort auch die Potenzregel für die Ableitung der $n$ten Potenz einer Funktion $f\in\mathscr{D}$, sie lautet: \begin{equation} \frac{d}{dz} f^n = \underbrace{ f'f^{n-1} + ff'f^{n-2} + f^2f'f^{n-3}+\dots f^{n-1}f' }_{\displaystyle \text{$n$ Terme}} = nf^{n-1}f'. \label{buch:integrale:eqn:potenzregel} \end{equation} In dieser Form versteckt sich natürlich auch die Kettenregel, die Potenzfunktion ist die äussere Funktion, $f$ die innere, $f'$ ist also die Ableitung er inneren Funktion, wie in der Kettenregel verlangt. Falls $f$ ein Element von $\mathscr{D}$ ist mit der Eigenschaft $df/dz=1$, dann entsteht die übliche Produktregel. \begin{definition} Eine Algebra $\mathscr{D}$ von Funktionen mit einem Ableitungsoperator $d/dz$ heisst eine {\em differentielle Algebra}. \index{differentielle Algebra}% \index{Algebra, differentielle}% In einer differentiellen Algebra gelten die üblichen Ableitungsregeln. \end{definition} Die Potenzregel war in der Form~\eqref{buch:integrale:eqn:potenzregel} geschrieben worden, nicht als die Ableitung von $z$. Der Grund dafür ist, dass wir gar nicht voraussetzen wollen, dass in unserer differentiellen Algebra eine Funktion existiert, die die Rolle von $z$ hat. Dies ist gar nicht nötig, wie das folgende Beispiel zeigt. \begin{beispiel} Als Funktionenmenge $\mathscr{D}$ nehmen wir rationale Funktionen in zwei Variablen, die wir $\cos x $ und $\sin x$ nennen. Diese Menge bezeichnen wir mit $\mathscr{D}=\mathbb{Q}(\cos x,\sin x)$ Der Ableitungsoperator ist \begin{align*} \frac{d}{dx} \cos x &= -\sin x \\ \frac{d}{dx} \sin x &= \phantom{-}\cos x. \end{align*} Die Funktionen von $\mathbb{Q}(\cos x,\sin x)$ sind also Brüche, deren Zähler und Nenner Polynome in $\cos x$ und $\sin x$ sind. Aus den Produkt- und Quotientenregeln und den Ableitungsregeln für $\cos x$ und $\sin x$ folgt, dass die Ableitung einer Funktion in $\mathscr{D}$ wieder in $\mathscr{D}$ ist, $\mathscr{D}$ ist eine differentielle Algebra. \end{beispiel} Die konstanten Funktionen spielen eine besondere Rolle. Da wir bei der Ableitung nicht von der Vorstellung einer Funktion mit einem variablen Argument ausgehen wollten und die Ableitung nicht als Grenzwert definieren wollten, müssen wir auch bei der Definition der ``Konstanten'' einen neuen Weg gehen. In der Analysis sind die Konstanten genau die Funktionen, deren Ableitung $0$ ist. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:konstante} Ein Element $f\in \mathscr{D}$ mit $df/dz=f'=0$ heissen {\em Konstante} in $\mathscr{D}$. \index{Konstante}% \end{definition} Die in der Potenzregel~\eqref{buch:integrale:eqn:potenzregel} vermisste Funktion $z$ kann man ähnlich zu den Konstanten zu definieren versuchen. $z$ müsste ein Element von $\mathscr{D}$ mit $z' = 1$ sein. Allerdings gibt es viele solche Elemente, ist $c$ eine Konstanten und $z'=1$, dann ist auch $(z+c)'=1$, $(z+c)$ hat also für die Zwecke unserer Untersuchung die gleichen Eigenschaften wie $z$. Dies deckt sich natürlich auch mit der Erwartung, dass Stammfunktionen nur bis auf eine Konstante bestimmt sind. Eine differentielle Algebra muss allerdings kein Element $z$ mit der Eigenschaft $z'=1$ enthalten. \begin{beispiel} In $\mathscr{D}=\mathbb{Q}(\cos x,\sin x)$ gibt es kein Element $x$. Ein solches wäre von der Form \[ x = \frac{p(\cos x,\sin x)}{q(\cos x,\sin x)}. \] Eine solche goniometrische Beziehung würde für $x=\frac{\pi}4$ bedeuten, dass \[ \frac{\pi}4 = \frac{p(\sqrt{2}/2,\sqrt{2}/2)}{q(\sqrt{2}/2,\sqrt{2}/2)}. \] Auf der rechten Seite steht ein Quotient von Polynome, in dessen Argument nur rationale Zahlen und $\sqrt{2}$ steht. So ein Ausdruck kann immer in die Form \[ \pi = 4\frac{a\sqrt{2}+b}{c\sqrt{2}+d} = \frac{4(a\sqrt{2}+b)(c\sqrt{2}-d)}{2c^2+d^2} = r\sqrt{2}+s \] gebracht werden. Die Zahl auf der rechten Seite ist zwar irrational, aber sie ist Nullstelle des quadratischen Polynoms \[ p(x) = (x-r\sqrt{2}-s)(x+r\sqrt{2}-s) = x^2 -2sx -2r^2+s^2 \] mit rationalen Koeffizienten, wie man mit der Lösungsformel für die quadratische Gleichung nachprüfen kann. Es ist bekannt, dass $\pi$ als transzendente Zahl nicht Nullstelle eines Polynoms mit rationalen Koeffizienten ist. Dieser Widerspruch zeigt, dass $x$ nicht in $\mathbb{Q}(\cos x, \sin x)$ vorkommen kann. \end{beispiel} In einer differentiellen Algebra kann jetzt die Frage nach der Existenz einer Stammfunktion gestellt werden. \begin{aufgabe} \label{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion} Gegeben eine differentielle Algebra $\mathscr{D}$ und ein Element $f\in\mathscr{D}$, entscheide, ob es ein Element $F\in\mathscr{D}$ gibt mit der Eigenschaft $F'=f$. Ein solches $F\in\mathscr{D}$ heisst {\em Stammfunktion} von $f$. \end{aufgabe} \begin{satz} In einer differentiellen Algebra $\mathscr{D}$ mit $z\in\mathscr{D}$ hat die Potenzfunktion $f=z^n$ für $n\in\mathbb{N}\setminus\{-1\}$ ein Stammfunktion, nämlich \[ F = \frac{1}{n+1} z^{n+1}. \] \label{buch:integrale:satz:potenzstammfunktion} \end{satz} \begin{proof}[Beweis] Tatsächlich kann man dies sofort nachrechnen, muss allerdings die Fälle $n+1 >0$ und $n+1<0$ unterscheiden, da die Potenzregel \eqref{buch:integrale:eqn:potenzregel} nur für natürliche Exponenten gilt. Man erhält \begin{align*} n+1&>0\colon & \frac{d}{dz}\frac{1}{n+1}z^{n+1} &= \frac{1}{n+1}(n+1)z^{n+1-1} = z^n, \\ n+1&<0\colon & \frac{d}{dz}\frac{1}{n+1}\frac{1}{z^{-(n+1)}} &= \frac{1}{n+1}\frac{1'z^{-(n+1)}-1(-(n+1))z^{-n-1-1}}{z^{-2n-2}} \\ && &= \frac{1}{n+1} \frac{(n+1)z^n{-n-2}}{z^{-2n-2}} \\ && &= \frac{1}{z^{-n}}=z^n. \end{align*} Man beachte, dass in dieser Rechnung nichts anderes als die algebraischen Eigenschaften der Produkt- und Quotientenregel verwendet wurden. \end{proof} \subsubsection{Wurzeln} Die Wurzelfunktionen sollen natürlich als elementare Funktionen erlaubt sein. Es ist bekannt, dass $\sqrt{z}\not\in \mathscr{D}=\mathbb{C}(z)$ ist, ein solches Element müsste also erst noch hinzugefügt werden. Dabei muss auch seine Ableitung definiert werden. Auch dabei dürfen wir nicht auf eine Grenzwertüberlegung zurückgreifen, vielmehr müssen wir die Ableitung auf vollständig algebraische Weise bestimmen. Wir schreiben $f=\sqrt{z}$ und leiten die Gleichung $f^2=z$ nach $z$ ab. Dabei ergibt sich nach der Potenzregel \[ \frac{d}{dz}f^2 = 2f'f = \frac{d}{dz}z=1 \qquad\Rightarrow\qquad f' = \frac{1}{2f}. \] Diese Rechnung lässt sich auch auf $n$-Wurzeln $g=\root{n}\of{z}$ mit der Gleichung $g^n = z$ verallgemeinern. Die Ableitung der $n$-ten Wurzel ist \begin{equation} \frac{d}{dz}g^n = ng^{n-1} = \frac{d}{dz}z=1 \qquad\Rightarrow\qquad \frac{d}{dz}g = \frac{1}{ng^{n-1}}. \end{equation} Es ist also möglich, eine differentielle Algebra $\mathscr{D}$ mit einer $n$-ten Wurzel $g$ zu einer grösseren differentiellen Algebra $\mathscr{D}(g)$ zu erweitern, in der wieder alle Regeln für das Rechnen mit Ableitungen erfüllt sind. \subsubsection{Algebraische Elemente} Die Charakterisierung der Wurzelfunktionen passt zwar zum verlangten algebraischen Vorgehen, ist aber zu spezielle und nicht gut für die nachfolgenden Untersuchengen geeignet. Etwas allgemeiner ist der Begriff der algebraischen Elemente. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:algebraisches-element} Seien $K\subset L$ zwei Körper. Ein Element $\alpha \in L$ heisst {\em algebraisch} über $K$, wenn $\alpha$ Nullstelle eines Polynoms $p\in K[X]$ mit Koeffizienten in $K$ ist. \index{algebraisch}% \end{definition} Jedes Element $\alpha\in K$ ist algebraisch, da $\alpha$ Nullstelle von $X-\alpha\in K[X]$ ist. Die $n$tem Wurzeln eines Elemente $\alpha\in K$ sind ebenfalls algebraisch, da sie Nullstellen des Polynoms $p(X) = X^n - \alpha$ sind. Allerdings ist nicht klar, dass diese Wurzeln überhaupt existieren. Nach dem Satz von Abel~\ref{buch:potenzen:satz:abel} gibt es aber Nullstellen von Polynomen, die sich nicht als Wurzelausdrücke schreiben lassen. Der Begriff der algebraischen Elemente ist also allgemeiner als der Begriff der Wurzel. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:algebraisch-abgeschlossen} Ein Körper $K$ heisst {\em algebraisch abgeschlossen}, wenn jedes Polynom mit Koeffizienten in $K$ eine Nullstelle in $K$ hat. \end{definition} Der Körper $\mathbb{C}$ ist nach dem Fundamentalsatz~\label{buch:potenzen:satz:fundamentalsatz} der Algebra algebraisch abgeschlossen. Da wir aber mit Funktionen arbeiten, müssen wir auch Wurzeln von Funktionen finden können. Dies ist nicht selbstverständlich, wie das folgende Beispiel zeigt. \begin{beispiel} Es gibt keine stetige Funktion $f\colon \mathbb{C}\to\mathbb{C}$, die die Gleichung $f(z)^2 = z$ und $f(1)=1$ erfüllt. Für die Argumente $z(t)= e^{it}$ folgt, dass $f(z(t)) = e^{it/2}$ sein muss. Setzt man aber $t=\pm \pi$ ein, ergeben sich die Werte $f(z(\pm\pi))=e^{\pm i\pi/2}=\pm 1$, die beiden Grenzwerte für $t\to\pm\pi$ sind also verschieden. \end{beispiel} Die Mathematik hat verschiedene ``Tricks'' entwickelt, wie mit diesem Problem umgegangen werden kann: Funktionskeime, Garben, Riemannsche Flächen. Sie sind alle gleichermassen gut geeignet, das Problem zu lösen. Für die vorliegende Aufgabe genügt es aber, dass es tatsächlich immer ein wie auch immer geartetes Element gibt, welches Nullstelle des Polynoms ist. Ist $f$ eine Nullstelle des Polynoms $p(X)$ mit Koeffizienten in $\mathscr{D}$, dann kann man die Ableitung wie folgt berechnen. Zunächst leitet man $p(f)$ ab: \begin{align} 0&= \frac{d}{dz}(a_nf^n + a_{n-1}f^{n-1}+\ldots+a_1f+a_0) \notag \\ &= a_n'f^n + a_{n-1}'f^{n-1}+\ldots+a_1'f+a_0' + na_nf^{n-1}f' + (n-1)a_nf^{n-2}f' + \ldots + a_2ff' + a_1f' \notag \\ &= a_n'f^n + a_{n-1}'f^{n-1}+\ldots+a_1'f+a_0' + ( na_nf^{n-1} + (n-1)a_nf^{n-2} + \ldots + a_2f + a_1 )f' \notag \\ \Rightarrow \qquad f'&=\frac{ a_n'f^n + a_{n-1}'f^{n-1}+\dots+a_1'f+a_0' }{ na_nf^{n-1} + (n-1)a_nf^{n-2} + \dots + a_1 }. \label{buch:integrale:eqn:algabl} \end{align} Das einzige, was dabei schief gehen könnte ist, dass der Nenner ebenfalls verschwindet. Dieses Problem kann man dadurch lösen, dass man als Polynom das sogenannte Minimalpolynom verwendet. \begin{definition} Das {\em Minimalpolynome} $m(X)$ eines algebraischen Elementes $\alpha$ ist das Polynom kleinsten Grades, welches $m(\alpha)=0$ erfüllt. \end{definition} Da das Minimalpolynom den kleinstmöglichen Grad hat, kann der Nenner von~\eqref{buch:integrale:eqn:algabl}, der noch kleineren Grad hat, unmöglich verschwinden. Das Minimalpolynom ist auch im wesentlichen eindeutig. Gäbe es nämlich zwei verschiedene Minimalpolynome $m_1$ und $m_2$, dann müsste $\alpha$ auch eine Nullstelle des grössten gemeinsamen Teilers $m_3=\operatorname{ggT}(m_1,m_2)$ sein. Wären die beiden Polynome wesentlich verschieden, dann hätte $m_3$ kleineren Grad, im Widerspruch zur Definition des Minimalpolynoms. Also unterscheiden sich die beiden Polynome $m_1$ und $m_2$ nur um einen skalaren Faktor. \subsubsection{Konjugation, Spur und Norm} % Konjugation, Spur und Norm Das Minimalpolynom eines algebraischen Elementes ist nicht eindeutig bestimmt. Zum Beispiel ist $\sqrt{2}$ algebraisch über $\mathbb{Q}$, das Minimalpolynom ist $m(X)=X^2-2\in\mathbb{Q}[X]$. Es hat aber noch eine zweite Nullstelle $-\sqrt{2}$. Mit rein algebraischen Mitteln sind die beiden Nullstellen $\pm\sqrt{2}$ nicht zu unterscheiden, erst die Verwendung der Vergleichsrelation ermöglicht, sie zu unterscheiden. Dasselbe gilt für die imaginäre Einheit $i$, die das Minimalpolynom $m(X)=X^2+1\in\mathbb{R}[X]$ hat. Hier gibt es nicht einmal mehr eine Vergleichsrelation, mit der man die beiden Nullstellen unterscheiden könnte. In der Tat ändert sich aus algebraischer Sicht nichts, wenn man in allen Formeln $i$ durch $-i$ ersetzt. Etwas komplizierter wird es bei $\root{3}\of{2}$. Das Polynom $m=x^3-2\in\mathbb{Q}[X]$ hat $\root{3}\of{2}$ als Nullstelle und dies ist auch tatsächlich das Minimalpolynom. Das Polynom hat noch zwei weitere Nullstellen \[ \alpha_+ = \frac{-1+i\sqrt{3}}{2}\root{3}\of{2} \qquad\text{und}\qquad \alpha_- = \frac{-1-i\sqrt{3}}{2}\root{3}\of{2}. \] Die beiden Lösungen gehen durch die Vertauschung von $i$ und $-i$ auseinander hervor. Betrachtet man dasselbe Polynom aber als Polynom in $\mathbb{R}[X]$, dann ist es nicht mehr das Minimalpolynom von $\root{3}\of{2}$, da $X-\root{3}\of{2}\in\mathbb{R}[X]$ kleineren Grad und $\root{3}\of{2}$ als Nullstelle hat. Indem man \[ m(X)/(X-\root{3}\of{2})=X^2+\root{3}\of{2}X+\root{3}\of{2}^2=m_2(X) \] rechnet, bekommt man das Minimalpolynom der beiden Nullstellen $\alpha_+$ und $\alpha_-$. Wir lernen aus diesen Beispielen, dass das Minimalpolynom vom Grundkörper abhängig ist (Die Faktorisierung $(X-\root{3}\of{2})\cdot m_2(X)$ von $m(X)$ ist in $\mathbb{Q}[X]$ nicht möglich) und dass wir keine algebraische Möglichkeit haben, die verschiedenen Nullstellen des Minimalpolynoms zu unterscheiden. Die beiden Nullstellen $\alpha_+$ und $\alpha_-$ des Polynoms $m_2(X)$ erlauben, $m_2(X)=(X-\alpha_+)(X-\alpha_-)$ zu faktorisieren. Durch Ausmultiplizieren \[ (X-\alpha_+)(X-\alpha_-) = X^2 -(\alpha_++\alpha_-)X+\alpha_+\alpha_- \] und Koeffizientenvergleich mit $m_2(X)$ findet man die symmetrischen Formeln \[ \alpha_+ + \alpha_- = \root{3}\of{2} \qquad\text{und}\qquad \alpha_+ \alpha_ = \root{3}\of{2}. \] Diese Ausdrücke sind nicht mehr abhängig von einer speziellen Wahl der Nullstellen. Das Problem verschärft sich nocheinmal, wenn wir Funktionen betrachten. Das Polynom $m(X)=X^3-z$ ist das Minimalpolynom der Funktion $\root{3}\of{z}$. Die komplexe Zahl $z=re^{i\varphi}$ hat aber drei die algebraisch nicht unterscheidbaren Nullstellen \[ \alpha_0(z)=\root{3}\of{r}e^{i\varphi/3}, \quad \alpha_1(z)=\root{3}\of{r}e^{i\varphi/3+2\pi/3} \qquad\text{und}\qquad \alpha_2(z)=\root{3}\of{r}e^{i\varphi/3+4\pi/3}. \] Aus der Faktorisierung $ (X-\alpha_0(z)) (X-\alpha_1(z)) (X-\alpha_2(z))$ und dem Koeffizientenvergleich mit dem Minimalpolynom kann man wieder schliessen, dass die Relationen \[ \alpha_0(z) + \alpha_1(z) + \alpha_2(z)=0 \qquad\text{und}\qquad \alpha_0(z) \alpha_1(z) \alpha_2(z) = z \] gelten. Wir können also oft keine Aussagen über individuelle Nullstellen eines Minimalpolynoms machen, sondern nur über deren Summe oder Produkt. \begin{definition} \index{buch:integrale:def:spur-und-norm} Sie $m(X)\in K[X]$ das Minimalpolynom eines über $K$ algebraischen Elements und \[ m(X) = a_nX^n + a_{n-1}X^{n-1} + \ldots + a_1X + a_0. \] Dann heissen \[ \operatorname{Tr}(\alpha) = -a_{n-1} \qquad\text{und}\qquad \operatorname{Norm}(\alpha) = (-1)^n a_0 \] die {\em Spur} und die {\em Norm} des Elementes $\alpha$. \index{Spur eines algebraischen Elementes}% \index{Norm eines algebraischen Elementes}% \end{definition} Die Spur und die Norm können als Spur und Determinante einer Matrix verstanden werden, diese allgemeineren Definitionen, die man in der Fachliteratur, z.~B.~in~\cite{buch:lang} nachlesen kann, führen aber für unsere Zwecke zu weit. \begin{hilfssatz} Die Ableitungen von Spur und Norm sind \[ \operatorname{Tr}(\alpha)' = \operatorname{Tr}(\alpha') \qquad\text{und}\qquad \operatorname{Norm}(\alpha)' = \operatorname{Tr}(\alpha)' \] XXX Wirklich? \end{hilfssatz} \subsubsection{Logarithmen und Exponentialfunktionen} Die Funktion $z^{-1}$ musste im Satz~\ref{buch:integrale:satz:potenzstammfunktion} ausgeschlossen werden, sie hat keine Stammfunktion in $\mathbb{C}(z)$. Aus der Analysis ist bekannt, dass die Logarithmusfunktion $\log z$ eine Stammfunktion ist. Der Logarithmus von $z$ aber auch der Logarithmus $\log f(z)$ einer beliebigen Funktion $f(z)$ oder die Exponentialfunktion $e^{f(z)}$ sollen ebenfalls elementare Funktionen sein. Da wir aber auch hier nicht auf die analytischen Eigenschaften zurückgreifen wollen, brauchen wir ein rein algebraische Definition. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:logexp} Sei $\mathscr{D}$ ein differentielle Algebra und $f\in\mathscr{D}$. Ein Element $\vartheta\in\mathscr{D}$ heisst ein {\em Logarithmus} von $f$, geschrieben $\vartheta = \log f$, wenn $f\vartheta' = f'$ gilt. $\vartheta$ heisst eine Exponentialfunktion von $f$ wenn $\vartheta'=\vartheta f'$ gilt. \end{definition} Die Formel für die Exponentialfunktion ist etwas vertrauter, sie ist die bekannte Kettenregel \begin{equation} \vartheta' = \frac{d}{dz} e^f = e^f \cdot \frac{d}{dz} f = \vartheta \cdot f'. \label{buch:integrale:eqn:exponentialableitung} \end{equation} Da wir uns vorstellen, dass Logarithmen Umkehrfunktionen von Exponentialfunktionen sein sollen, muss die definierende Gleichung genau wie \eqref{buch:integrale:eqn:exponentialableitung} aussehen, allerdings mit vertauschten Plätzen von $f$ und $\vartheta$, also \begin{equation} \vartheta' = \vartheta\cdot f' \qquad \rightarrow \qquad f' = f\cdot \vartheta' \;\Leftrightarrow\; \vartheta' = (\log f)' = \frac{f'}{f}. \label{buch:integrale:eqn:logarithmischeableitung} \end{equation} Dies ist die aus der Analysis bekannte Formel für die logarithmische Ableitung. Der Logarithmus von $f$ und die Exponentialfunktion von $f$ sollen also ebenfalls als elementare Funktionen betrachtet werden. \subsubsection{Die trigonometrischen Funktionen} Die bekannten trigonometrischen Funktionen und ihre Umkehrfunktionen sollten natürlich auch elementare Funktionen sein. Dabei kommt uns zur Hilfe, dass sie sich mit Hilfe der Exponentialfunktion als \[ \cos f = \frac{e^{if}+e^{-if}}2 \qquad\text{und}\qquad \sin f = \frac{e^{if}-e^{-if}}{2i} \] schreiben lassen. Eine differentielle Algebra, die die Exponentialfunktionen von $if$ und $-if$ enthält, enthält also automatisch auch die trigonometrischen Funktionen. Im Folgenden ist es daher nicht mehr nötig, die trigonometrischen Funktionen speziell zu untersuchen. \subsubsection{Elementare Funktionen} Damit sind wir nun in der Lage, den Begriff der elementaren Funktion genau zu fassen. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:einfache-elementare-funktion} Sie $\mathscr{D}$ eine differentielle Algebra über $\mathbb{C}$ und $\mathscr{D}(\vartheta)$ eine Erweiterung von $\mathscr{D}$ um eine neue Funktion $\vartheta$, dann heissen $\vartheta$ und die Elemente von $\mathscr{D}(\vartheta)$ einfach elementar, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: \begin{enumerate} \item $\vartheta$ ist algebraisch über $\mathscr{D}$, d.~h.~$\vartheta$ ist eine ``Wurzel''. \item $\vartheta$ ist ein Logarithmus einer Funktion in $\mathscr{D}$, d.~h.~es gibt $f\in \mathscr{D}$ mit $f'=f\vartheta'$ (Definition~\ref{buch:integrale:def:logexp}). \item $\vartheta$ ist eine Exponentialfunktion einer Funktion in $\mathscr{D}$, d.~h.~es bit $f\in\mathscr{D}$ mit $\vartheta'=\vartheta f'$ (Definition~\ref{buch:integrale:def:logexp}). \end{enumerate} \end{definition} Einfache elementare Funktionen entstehen also ausgehend von einer differentiellen Algebra, indem man genau einmal eine Wurzel, einen Logarithmus oder eine Exponentialfunktion hinzufügt. So etwas wie die zusammengesetzte Funktion $e^{\sqrt{z}}$ ist damit noch nicht möglich. Daher erlauben wir, dass man die gesuchten Funktionen in mehreren Schritten aufbauen kann. \begin{definition} Sei $\mathscr{F}$ eine differentielle Algebra, die die differentielle Algebra $\mathscr{D}$ enthält, also $\mathscr{D}\subset\mathscr{F}$. $\mathscr{F}$ und die Elemente von $\mathscr{F}$ heissen einfach, wenn es endlich viele Elemente $\vartheta_1,\dots,\vartheta_n$ gibt derart, dass \[ \renewcommand{\arraycolsep}{2pt} \begin{array}{ccccccccccccc} \mathscr{D} &\subset& \mathscr{D}(\vartheta_1) &\subset& \mathscr{D}(\vartheta_1,\vartheta_2) &\subset& \; \cdots \; &\subset& \mathscr{D}(\vartheta_1,\vartheta_2,\dots,\vartheta_{n-1}) &\subset& \mathscr{D}(\vartheta_1,\vartheta_2,\dots,\vartheta_{n-1},\vartheta_n) &=& \mathscr{F} \\ \| && \| && \| && && \| && \| && \\ \mathscr{F}_0 &\subset& \mathscr{F}_1 &\subset& \mathscr{F}_2 &\subset& \cdots &\subset& \mathscr{F}_{n-1} &\subset& \mathscr{F}_{n\mathstrut} && \end{array} \] gilt so, dass jedes $\vartheta_{i+1}$ einfach ist über $\mathscr{F}_i=\mathscr{D}(\vartheta_1,\dots,\vartheta_i)$. \end{definition} In Worten bedeutet dies, dass man den Funktionen von $\mathscr{D}$ nacheinander Wurzeln, Logarithmen oder Exponentialfunktionen einzelner Funktionen hinzufügt. Die Aufgabe~\ref{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion} kann jetzt so formuliert werden. \begin{aufgabe} \label{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion-dalg} Gegeben ist eine Differentielle Algebra $\mathscr{D}$ und eine Funktion $f\in \mathscr{D}$. Gibt es eine Folge $\vartheta_1,\dots,\vartheta_n$ und eine Funktion $F\in\mathscr{D}(\vartheta_1,\dots,\vartheta_n)$ derart, dass $F'=f$. \end{aufgabe} Das folgende Beispiel zeigt, wie man möglicherweise mehrere Erweiterungsschritte vornehmen muss, um zu einer Stammfunktion zu kommen. Es illustriert auch die zentrale Rolle, die der Partialbruchzerlegung in der weiteren Entwicklung zukommen wird. \begin{beispiel} \label{buch:integrale:beispiel:nichteinfacheelementarefunktion} Es soll eine Stammfunktion der Funktion \[ f(z) = \frac{z}{(az+b)(cz+d)} \in \mathbb{C}(z) \] gefunden werden. In der Analysis lernt man, dass solche Integrale mit der Partialbruchzerlegung \[ \frac{z}{(az+b)(cz+d)} = \frac{A_1}{az+b}+\frac{A_2}{cz+d} = \frac{A_1cz+A_1d+A_2az+A_2b}{(az+b)(cz+d)} \quad\Rightarrow\quad \left\{ \renewcommand{\arraycolsep}{2pt} \begin{array}{rcrcr} cA_1&+&aA_2&=&1\\ dA_1&+&bA_2&=&0 \end{array} \right. \] bestimmt werden. Die Lösung des Gleichungssystems ergibt $A_1=b/(bc-ad)$ und $A_2=d/(ad-bc)$. Die Stammfunktion kann dann aus \begin{align*} \int f(z)\,dz &= \int\frac{A_1}{az+b}\,dz + \int\frac{A_2}{cz+d}\,dz = \frac{A_1}{a}\int\frac{a}{az+b}\,dz + \frac{A_2}{c}\int\frac{c}{cz+d}\,dz \end{align*} bestimmt werden. In den Integralen auf der rechten Seite ist der Zähler jeweils die Ableitung des Nenners, der Integrand hat also die Form $g'/g$. Genau diese Form tritt in der Definition eines Logarithmus auf. Die Stammfunktion ist jetzt \[ F(z) = \int f(z)\,dz = \frac{A_1}{a}\log(az+b) + \frac{A_2}{c}\log(cz+d) = \frac{b\log(az+b)}{a(bc-ad)} + \frac{d\log(cz+d)}{c(ad-bc)}. \] Die beiden Logarithmen kann man nicht durch rein rationale Operationen ineinander überführen. Sie müssen daher beide der Algebra $\mathscr{D}$ hinzugefügt werden. \[ \left. \begin{aligned} \vartheta_1&=\log(az+b)\\ \vartheta_2&=\log(cz+d) \end{aligned} \quad \right\} \qquad\Rightarrow\qquad F(z) \in \mathscr{F}=\mathscr{D}(\vartheta_1,\vartheta_2). \] Die Stammfunktion $F(z)$ ist also keine einfache elementare Funktion, aber $F$ ist immer noch eine elementare Funktion. \end{beispiel} \subsection{Partialbruchzerlegung \label{buch:integrale:section:partialbruchzerlegung}} Die Konstruktionen des letzten Abschnitts haben gezeigt, wie man die Funktionen, die man als Stammfunktionen einer Funktion zulassen möchte, schrittweise konstruieren kann. Die Aufgabe~\ref{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion-dalg} ist eine rein algebraische Formulierung der ursprünglichen Aufgabe~\ref{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion}. Schliesslich hat das Beispiel auf Seite~\pageref{buch:integrale:beispiel:nichteinfacheelementarefunktion} gezeigt, dass es im allgemeinen mehrere Schritte braucht, um zu einer elementaren Stammfunktion zu gelangen. Die Lösung setzt sich aus den Termen der Partialbruchzerlegung. In diesem Abschnitt soll diese genauer studiert werden. In diesem Abschnitt gehen wir immer von einer differentiellen Algebra über den komplexen Zahlen aus und verlangen, dass die Konstanten in allen betrachteten differentiellen Algebren $\mathbb{C}$ sind. \subsubsection{Monome} Die beiden Funktionen $\vartheta-1=\log(az+b)$ und $\vartheta_2=(cz+d)$, die im Beispiel hinzugefügt werden mussten, verhalten sich ich algebraischer Hinsicht wie ein Monom: man kann es nicht faktorisieren oder bereits bekannte Summanden aufspalten. Solchen Funktionen kommt eine besondere Bedeutung zu. \begin{definition} \label{buch:integrale:def:monom} Die Funktion $\vartheta$ heisst ein Monom, wenn $\vartheta$ nicht algebraisch ist über $\mathscr{D}$ und $\mathscr{D}(\vartheta)$ die gleichen Konstanten enthält wie $\mathscr{D}$. \end{definition} \begin{beispiel} Als Beispiel beginnen wir mit den komplexen Zahlen $\mathbb{C}$ und fügen die Funktion $\vartheta_1=z$ hinzu und erhalten $\mathscr{D}=\mathbb{C}(z)$. Die Funktionen $z^k$ sind für alle $k$ linear unabhängig, d.~h.~es gibt keinen Ausdruck \[ a_nz^n + a_{n-1}z^{n-1}+\cdots+a_1z+a_0=0. \] Dies ist gleichbedeutend damit, dass $z$ nicht algebraisch ist. Das Monom $z$ ist also auch ein Monom im Sinne der Definition~\ref{buch:integrale:def:monom}. \end{beispiel} \begin{beispiel} Wir beginnen wieder mit $\mathbb{C}$ und fügen die Funktion $e^z$ hinzu. Gäbe es eine Beziehung \[ b_m(e^z)^m + b_{m-1}(e^z)^{m-1}+\dots+b_1e^z + b_0=0 \] mit komplexen Koeffizienten $b_i\in\mathbb{C}$, dann würde daraus durch Einsetzen von $z=1$ die Relation \[ b_me^m + b_{m-1}e^{m-1} + \dots + b_1e + b_0=0, \] die zeigen würde, dass $e$ eine algebraische Zahl ist. Es ist aber bekannt, dass $e$ transzendent ist. Dieser Widersprich zeigt, dass $e^z$ ein Monom ist. \end{beispiel} \begin{beispiel} Jetzt fügen wir die Exponentialfunktion $\vartheta_2=e^z$ der differentiellen Algebra $\mathscr{D}=\mathbb{C}(z)$ hinzu und erhalten $\mathscr{F}_1=\mathscr{D}(e^z) = \mathbb{C}(z,e^z)$. Gäbe es das Minimalpolynom \begin{equation} b_m(z)(e^z)^m + b_{m-1}(z)(e^z)^{m-1}+\dots+b_1(z)e^z + b_0(z)=0 \label{buch:integrale:beweis:exp-analytisch} \end{equation} mit Koeffizienten $b_i\in\mathbb{C}(z)$, dann könnte man mit dem gemeinsamen Nenner der Koeffizienten durchmultiplizieren und erhielte eine Relation~\eqref{buch:integrale:beweis:exp-analytisch} mit Koeffizienten in $\mathbb{C}[z]$. Dividiert man durch $e^{mz}$ erhält man \[ b_m(z) + b_{m-1}(z)\frac{1}{e^z} + \dots + b_1(z)\frac{1}{(e^z)^{m-1}} + b_0(z)\frac{1}{(e^z)^m}=0. \] Aus der Analysis weiss man, dass die Exponentialfunktion schneller anwächst als jedes Polynom, alle Terme auf der rechten Seite konvergieren daher gegen 0 für $z\to\infty$. Das bedeutet, dass $b_m(z)\to0$ für $z\to \infty$. Das Polynom~\eqref{buch:integrale:beweis:exp-analytisch} wäre also gar nicht das Minimalpolynom. Dieser Widerspruch zeigt, dass $e^z$ nicht algebraisch ist über $\mathbb{C}(z)$ und damit ein Monom ist\footnote{Etwas unbefriedigend an diesem Argument ist, dass man hier wieder rein analytische statt algebraische Eigenschaften von $e^z$ verwendet. Gäbe es aber eine minimale Relation wie \eqref{buch:integrale:beweis:exp-analytisch} mit Polynomkoeffizienten, dann wäre sie von der Form \[ P(z,e^z)=p(z)(e^z)^m + q(z,e^z)=0, \] wobei Grad von $e^z$ in $q$ höchstens $m-1$ ist. Die Ableitung wäre dann \[ Q(z,e^z) = mp(z)(e^z)^m + p'(z)(e^z)^m + r(z,e^z) = (mp(z) + p'(z))(e^z)^m + r(z,e^z) =0, \] wobei der Grad von $e^z$ in $r$ wieder höchstens $m-1$ ist. Bildet man $mP(z,e^z) - Q(z,e^z) = 0$ ensteht eine Relation, in der der Grad des Koeffizienten von $(e^z)^m$ um eins abgenommen hat. Wiederholt man dies $m$ mal, verschwindet der Term $(e^z)^m$, die Relation~\eqref{buch:integrale:beweis:exp-analytisch} war also gar nicht minimal. Dieser Widerspruch zeigt wieder, dass $e^z$ nicht algebraisch ist, verwendet aber nur die algebraischen Eigenschaften der differentiellen Algebra. }. \end{beispiel} \begin{beispiel} Wir hätten auch in $\mathbb{Q}$ arbeiten können und $\mathbb{Q}$ erst die Exponentialfunktion $e^z$ und dann den Logarithmus $z$ von $e^z$ hinzufügen können. Es gibt aber noch weitere Logarithmen von $e^z$ zum Beispiel $z+2\pi i$. Offenbar ist $\psi=z+2\pi i\not\in \mathbb{Q}(z,e^z)$, wir könnten also auch noch $\psi$ hinzufügen. Zwar ist $\psi$ auch nicht algebraisch, aber wenn wir $\psi$ hinzufügen, dann wird aber die Menge der Konstanten grösser, sie umfasst jetzt $\mathbb{Q}(2\pi i)$. Die Bedingung in der Definition~\ref{buch:integrale:def:monom}, dass die Menge der Konstanten nicht grösser werden darf, ist also verletzt. Hätte man mit $\mathbb{Q}(e^z, z+2\pi i)$ begonnen, wäre $z$ aus dem gleichen Grund kein Monom, aber $z+2\pi i$ wäre eines im Sinne der Definition~\ref{buch:integrale:def:monom}. In allen Rechnungen könnte man $\psi=z+2\pi i$ nicht weiter aufteilen, da $\pi$ oder seine Potenzen keine Elemente von $\mathbb{Q}(e^z)$ sind. \end{beispiel} Da wir im Folgenden davon ausgehen, dass die Konstanten unserer differentiellen Körper immer $\mathbb{C}$ sind, wird es jeweils genügen zu untersuchen, ob eine neu hinzuzufügende Funktion algebraisch ist oder nicht. \subsubsection{Ableitungen von Polynomen und rationalen Funktionen von Monomen} Fügt man einer differentiellen Algebra ein Monom hinzu, dann lässt sich etwas mehr über Ableitungen von Polynomen oder Brüchen in diesen Monomen sagen. Diese Eigenschaften werden später bei der Auflösung der Partialbruchzerlegung nützlich sein. \begin{satz} \label{buch:integrale:satz:polynom-ableitung-grad} Sei \[ P = A_nX^n + A_{n-1}X^{n-1} + \dots A_1X+A_0 \in\mathscr{D}[X] \] ein Polynom mit Koeffizienten in einer differentiellen Algebra $\mathscr{D}$ und $\vartheta$ ein Monom über $\mathscr{D}$. Dann gilt \begin{enumerate} \item \label{buch:integrale:satz:polynom-ableitung-grad-log} Falls $\vartheta=\log f$ ist, ist $P(\vartheta)'$ ein Polynom vom Grad $n$ in $\vartheta$, wenn der Leitkoeffizient $A_n$ nicht konstant ist, andernfalls ein Polynom vom Grad $n-1$. \item \label{buch:integrale:satz:polynom-ableitung-grad-exp} Falls $\vartheta = \exp f$ ist, dann ist $P(\vartheta)'$ ein Polynom in $\vartheta$ vom Grad $n$. \end{enumerate} \end{satz} Der Satz macht also genaue Aussagen darüber, wie sich der Grad eines Polynoms in $\vartheta$ beim Ableiten ändert. \begin{proof}[Beweis] Für Exponentialfunktion ist $\vartheta'=\vartheta f'$, die Ableitung fügt also einfach einen Faktor $f'$ hinzu. Terme der Form $A_k\vartheta^k$ haben die Ableitung \[ (A_k\vartheta^k) = A'_k\vartheta^k + A_kk\vartheta^{k-1}\vartheta' = A'_k\vartheta^k + A_kk\vartheta^{k-1}\vartheta f' = (A'_k + kA_k f)\vartheta^k. \] Damit wird die Ableitung des Polynoms \begin{equation} P(\vartheta)' = \underbrace{(A'_n+nA_nf')\vartheta^n}_{\displaystyle=(A_n\vartheta^n)'} + (A'_{n-1}+(n-1)A_{n-1}f')\vartheta^{n-1} + \dots + (A'_1+A_1f')\vartheta + A_0'. \label{buch:integrale:ableitung:polynom} \end{equation} Der Grad der Ableitung kann sich also nur ändern, wenn $A_n'+nA_nf'=0$ ist. Dies bedeutet aber wegen \( (A_n\vartheta^n)' = 0 \), dass $A_n\vartheta^n=c$ eine Konstante ist. Da alle Konstanten bereits in $\mathscr{D}$ sind, folgt, dass \[ \vartheta^n=\frac{c}{A_n} \qquad\Rightarrow\qquad \vartheta^n - \frac{c}{A_n}=0, \] also wäre $\vartheta$ algebraisch über $\mathscr{D}$, also auch kein Monom. Dieser Widerspruch zeigt, dass der Leitkoeffizient nicht verschwinden kann. Für die erste Aussage ist die Ableitung der einzelnen Terme des Polynoms \[ (A_k\vartheta^k)' = A_k'\vartheta^k + A_kk\vartheta^{k-1}\vartheta' = A_k'\vartheta^k + A_kk\vartheta^{k-1}\frac{f'}{f} = \biggl(A_k'\vartheta + kA_k\frac{f'}{f}\biggr)\vartheta^{k-1}. \] Die Ableitung des Polynoms ist daher \[ P(\vartheta)' = A_n'\vartheta^n + \biggl(nA_n\frac{f'}{f}+ A'_{n-1}\biggr)\vartheta^{n-1}+\dots \] Wenn $A_n$ keine Konstante ist, ist $A_n'\ne 0$ und der Grad von $P(\vartheta)'$ ist $n$. Wenn $A_n$ eine Konstante ist, müssen wir noch zeigen, dass der nächste Koeffizient nicht verschwinden kann. Wäre der zweite Koeffizient $=0$, dann wäre die Ableitung \[ (nA_n\vartheta+A_{n-1})' = nA_n\vartheta'+A'_{n-1} = nA_n\frac{f'}{f}+A'_{n-1} = 0, \] d.h. $nA_n\vartheta+A_{n-1}=c$ wäre eine Konstante. Da alle Konstanten schon in $\mathscr{D}$ sind, müsste auch \[ \vartheta = \frac{c-A_{n-1}}{nA_n} \in \mathscr{D} \] sein, wieder wäre $\vartheta$ kein Monom. \end{proof} Der nächste Satz gibt Auskunft über den führenden Term in $(\log P(\vartheta))' = P(\vartheta)'/P(\vartheta)$. \begin{satz} \label{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung-grad} Sei $P$ ein Polynom vom Grad $n$ wie in \label{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung} welches zusätzlich normiert ist, also $A_n=1$. \begin{enumerate} \item \label{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung-log} Ist $\vartheta=\log f$, dann ist $(\log P(\vartheta))' = P(\vartheta)'/P(\vartheta)$ und $P(\vartheta)'$ hat Grad $n-1$. \item \label{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung-exp} Ist $\vartheta=\exp f$, dann gibt es ein Polynom $N(\vartheta)$ so, dass $(\log P(\vartheta))' = P(\vartheta)'/P(\vartheta) = N(\vartheta)/P(\vartheta)+nf'$ ist. Falls $P(\vartheta)=\vartheta$ ist $N=0$, andernfalls ist $N(\vartheta)$ ein Polynom vom Grad $0$ das kleinste $k$ so, dass $p<(k+1)q$. Insbesondere ist dann $kq\le p$. Nach dem euklidischen Satz für die Division von $P(X)$ durch $Q(X)^k$ gibt es ein Polynom $P_k(X)$ vom Grad $\le p-qk$ derart, dass \[ P(X) = P_k(X)Q(X)^k + R_k(X) \] mit einem Rest $R_k(X)$ vom Grad $1$ können mit der Potenzregel integriert werden, aber für eine Stammfunktion $1/(z-1)$ muss der Logarithmus $\log(z-1)$ hinzugefügt werden. Die Stammfunktion \[ \int f(z)\,dz = \int \frac{1}{z-1} \,dz + \int \frac{4}{(z-1)^2} \,dz + \int \frac{4}{(z-1)^3} \,dz = \log(z-1) - \underbrace{\frac{4z-2}{(z-1)^2}}_{\displaystyle\in\mathscr{D}} \in \mathscr{D}(\log(z-1)) = \mathscr{F} \] hat eine sehr spezielle Form. Sie besteht aus einem Term in $\mathscr{D}$ und einem Logarithmus einer Funktion von $\mathscr{D}$, also einem Monom über $\mathscr{D}$. \subsubsection{Einfach elementare Stammfunktionen} Der in diesem Abschnitt zu beweisende Satz von Liouville zeigt, dass die im einführenden Beispiel konstruierte Form der Stammfunktion eine allgemeine Eigenschaft elementar integrierbarer Funktionen ist. Zunächst aber soll dieses Bespiel etwas verallgemeinert werden. \begin{satz}[Liouville-Vorstufe für Monome] \label{buch:integrale:satz:liouville-vorstufe-1} Sei $\vartheta$ ein Monom über $\mathscr{D}$ und $g\in\mathscr{D}(\vartheta)$ mit $g'\in\mathscr{D}$. Dann hat $g$ die Form $v_0 + c_1\vartheta$ mit $v_0\in\mathscr{D}$ und $c_1\in\mathbb{C}$. \end{satz} \begin{proof}[Beweis] In Anlehnung an das einführende Beispiel nehmen wir an, dass die Stammfunktion $g\in\mathscr{D}[\vartheta]$ für ein Monom $\vartheta$ über $\mathscr{D}$ ist. Dann hat $g$ die Partialbruchzerlegung \[ g = H(\vartheta) + \sum_{j\le r(i)} \frac{P_{ij}(\vartheta)}{Q_i(\vartheta)^j} \] mit irreduziblen normierten Polynomen $Q_i(\vartheta)$ und Polynomen $P_{ij}(\vartheta)$ vom Grad kleiner als $\deg Q_i(\vartheta)$. Ausserdem ist $H(\vartheta)$ ein Polynom. Die Ableitung von $g$ muss jetzt aber wieder in $\mathscr{D}$ sein. Zu ihrer Berechnung können die Sätze \ref{buch:integrale:satz:polynom-ableitung-grad}, \ref{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung-grad} und \ref{buch:integrale:satz:partialbruch-monom} verwendet werden. Diese besagen, dass in der Partialbruchzerlegung die Exponenten der Nenner die Quotienten in der Summe nicht kleiner werden. Die Ableitung $g'\in\mathscr{D}$ darf aber gar keine Nenner mit $\vartheta$ enthalten, also dürfen die Quotienten gar nicht erst vorkommen. $g=H(\vartheta)$ muss also ein Polynom in $\vartheta$ sein. Die Ableitung des Polynoms darf wegen $g'\in\mathscr{d}$ das Monom $\vartheta$ ebenfalls nicht mehr enthalten, daher kann es höchstens vom Grad $1$ sein. Nach Satz~\ref{buch:integrale:satz:log-polynom-ableitung-grad} muss ausserdem der Leitkoeffizient von $g$ eine Konstante sein, das Polynom hat also genau die behauptete Form. \end{proof} \begin{satz}[Liouville-Vorstufe für algebraische Elemente] \label{buch:integrale:satz:liouville-vorstufe-2} Sei $\vartheta$ algebraische über $\mathscr{D}$ und $g\in\mathscr{D}(\vartheta)$ mit $g'\in\mathscr{D}$. \end{satz} \subsubsection{Elementare Stammfunktionen} Nach den Vorbereitungen über einfach elementare Stammfunktionen in den Sätzen~\label{buch:integrale:satz:liouville-vorstufe-1} und \label{buch:integrale:satz:liouville-vorstufe-2} sind wir jetzt in der Lage, den allgemeinen Satz von Liouville zu formulieren und zu beweisen. \begin{satz}[Liouville] Sei $\mathscr{D}$ ein Differentialkörper, $\mathscr{F}$ einfach über $\mathscr{D}$ mit gleichem Konstantenkörper $\mathbb{C}$. Wenn $g\in \mathscr{F}$ eine Stammfunktion von $f\in\mathscr{D}$ ist, also $g'=f$, dann gibt es Zahlen $c_i\in\mathbb{C}$ und $v_0,v_i\in\mathscr{D}$ derart, dass \begin{equation} g = v_0 + \sum_{i=1}^k c_i \log v_i \qquad\Rightarrow\qquad g' = v_0' + \sum_{i=1}^k c_i \frac{v_i'}{v_i} = f \label{buch:integrale:satz:liouville-fform} \end{equation} gilt. \end{satz} Der Satz hat zur Folge, dass eine elementare Stammfunktion für $f$ nur dann existieren kann, wenn sich $f$ in der speziellen Form \eqref{buch:integrale:satz:liouville-fform} schreiben lässt. Die Aufgabe~\ref{buch:integrale:aufgabe:existenz-stammfunktion-dalg} lässt sich damit jetzt lösen. \begin{proof}[Beweis] Wenn die Stammfunktion $g\in\mathscr{D}$ ist, dann hat $g$ die Form \eqref{buch:integrale:satz:liouville-fform} mit $v_0=g$, die Summe wird nicht benötigt. Wir verwenden Induktion nach der Anzahl der Elemente, die zu $\mathscr{D}$ hinzugefügt werden müssen, um einen Differentialkörper $\mathscr{F}=\mathscr{D}(\vartheta_1,\dots,\vartheta_n)$ zu konstruieren, der $g$ enthält. Da $f\in\mathscr{D}\subset\mathscr{D}(\vartheta_1)$ ist, können wir die Induktionsannahme auf die Erweiterung \[ \mathscr{D}(\vartheta_1)\subset\mathscr{D}(\vartheta_1,\vartheta_2) \subset\cdots\subset \mathscr{D}(\vartheta_1,\cdots,\vartheta_n)=\mathscr{F} \] anwenden, die durch Hinzufügen von nur $n-1$ Elemente $\vartheta_2,\dots,\vartheta_n$ aus $\mathscr{D}(\vartheta_1)$ den Differentialkörper $\mathscr{F}$ erreicht, der $g$ enthält. Sie besagt, dass sich $g$ schreiben lässt als \[ g = w_0 + \sum_{i=1}^{k_1} c_i\log w_i \qquad\text{mit $c_i\in\mathbb{C}$ und $w_0,w_i\in\mathscr{D}(\vartheta_1)$.} \] Wir müssen jetzt zeigen, dass sich dieser Ausdruck umformen lässt in den Ausdruck der Form~\eqref{buch:integrale:satz:liouville-fform}. Der Term $w_0\in\mathscr{D}(\vartheta_1)$ hat eine Partialbruchzerlegung \[ H(\vartheta_1) + \sum_{j\le r(l)} \frac{P_{lj}(\vartheta_1)}{Q_l(\vartheta_1)^j} \] in der Variablen $\vartheta_1$. Da $w_i\in\mathscr{D}(\vartheta_1)$ ist, kann man Zähler und Nenner von $w_i$ als Produkt irreduzibler normierter Polynome schreiben: \[ w_i = \frac{h_i Z_{i1}(\vartheta_1)^{s_{i1}}\cdots Z_{im(i)}^{s_{im(i)}} }{ N_{i1}(\vartheta_1)^{t_{i1}}\cdots N_{in(i)}(\vartheta_1)^{t_{in(i)}} } \] Der Logarithmus hat die Form \begin{align*} \log w_i &= \log h_i + s_{i1} \log Z_{i1}(\vartheta_1) + \cdots + s_{im(i)} \log Z_{im(i)} - t_{i1} \log N_{i1}(\vartheta_1) - \cdots - t_{in(i)} \log N_{in(i)}(\vartheta_1). \end{align*} $g$ kann also geschrieben werden als eine Summe von Polynomen, Brüchen, wie sie in der Partialbruchzerlegung vorkommen, Logarithmen von irreduziblen normierten Polynomen und Logarithmen von Elementen von $\mathscr{D}$. Die Ableitung $g'$ muss jetzt aber wieder in $\mathscr{D}$ sein, beim Ableiten müssen also alle Terme verschwinden, die $\vartheta_1$ enthalten. Dabei spielt es eine Rolle, ob $\vartheta_1$ ein Monom oder algebraisch ist. \begin{enumerate} \item Wenn $\vartheta_1$ ein Monom ist, dann kann man wie im Beweis des Satzes~\ref{buch:integrale:satz:liouville-vorstufe-1} argumentieren, dass die Brüchterme gar nicht vorkommen und $H(\vartheta_1)=v_0+c_1\vartheta_1$ sein muss. Die Ableitung Termen der Form $\log Z(\vartheta_1)$ ist ein Bruchterm mit dem irreduziblen Nenner $Z(\vartheta_1)$, die ebenfalls verschwinden müssen. Ist $\vartheta_1$ eine Exponentialfunktion, dann ist $\vartheta_1' \in \mathscr{D}(\vartheta_1)\setminus\mathscr{D}$, also muss $c_1=0$ sein. Ist $\vartheta_1$ ein Logarithmus, also $\vartheta_1=\log v_1$, dann kommen nur noch Terme der in \eqref{buch:integrale:satz:liouville-fform} erlaubten Form vor. \item Wenn $\vartheta_1$ algebraisch vom Grad $m$ ist, dann ist \[ g' = w_0' + \sum_{i=1}^{k_1} d_i\frac{w_i'}{w_i} = f. \] Weder $w_0$ noch $\log w_i$ sind in $\mathscr{D}(\vartheta_1)$. Aber wenn man $\vartheta_1$ durch die $m$ konjugierten Elemente ersetzt und alle summiert, dann ist \[ mf = \operatorname{Tr}(w_0) + \sum_{i=1}^{k_1} d_i \log\operatorname{Norm}(w_i). \] Da die Spur und die Norm in $\mathscr{D}$ sind, folgt, dass \[ f = \underbrace{\frac{1}{m} \operatorname{Tr}(w_0)}_{\displaystyle= v_0} + \sum_{i=1}^{k_1} \underbrace{\frac{d_i}{m}}_{\displaystyle=c_i} \log \underbrace{ \operatorname{Norm}(w_i)}_{\displaystyle=v_i} = v_0 + \sum_{i=1}^{k_1} c_i\log v_i \] die verlangte Form hat. \qedhere \end{enumerate} \end{proof} \subsection{Die Fehlerfunktion ist keine elementare Funktion \label{buch:integrale:section:fehlernichtelementar}} % \url{https://youtu.be/bIdPQTVF5n4} Mit Hilfe des Satzes von Liouville kann man jetzt beweisen, dass die Fehlerfunktion keine elementare Funktion ist. Dazu braucht man die folgende spezielle Form des Satzes. \begin{satz} \label{buch:integrale:satz:elementarestammfunktion} Wenn $f(x)$ und $g(x)$ rationale Funktionen von $x$ sind, dann ist die Stammfunktion von $f(x)e^{g(x)}$ genau dann eine elementare Funktion, wenn es eine rationale Funktion gibt, die Lösung der Differentialgleichung \[ r'(x) + g'(x)r(x)=f(x) \] ist. \end{satz} \begin{satz} Die Funktion $x\mapsto e^{-x^2}$ hat keine elementare Stammfunktion. \label{buch:iintegrale:satz:expx2} \end{satz} \begin{proof}[Beweis] Unter Anwendung des Satzes~\ref{buch:integrale:satz:elementarestammfunktion} auf $f(x)=1$ und $g(x)=-x^2$ folgt, $e^{-x^2}$ genau dann eine rationale Stammfunktion hat, wenn es eine rationale Funktion $r(x)$ gibt, die Lösung der Differentialgleichung \begin{equation} r'(x) -2xr(x)=1 \label{buch:integrale:expx2dgl} \end{equation} ist. Zunächst halten wir fest, dass $r(x)$ kein Polynom sein kann. Wäre nämlich \[ r(x) = a_0 + a_1x + \dots + a_nx^n = \sum_{k=0}^n a_kx^k \quad\Rightarrow\quad r'(x) = a_1 + 2a_2x + \dots + na_nx^{n-1} = \sum_{k=1}^n ka_kx^{k-1} \] ein Polynom, dann ergäbe sich beim Einsetzen in die Differentialgleichung \begin{align*} 1 &= r'(x)-2xr(x) \\ &= a_1 + 2a_2x + 3a_3x^2 + \dots + (n-1)a_{n-1}x^{n-2} + na_nx^{n-1} \\ &\qquad - 2a_0x -2a_1x^2 -2a_2x^3 - \dots - 2a_{n-1}x^n - 2a_nx^{n+1} \\ & \hspace{0.7pt} \renewcommand{\arraycolsep}{1.8pt} \begin{array}{crcrcrcrcrcrcrcr} =&a_1&+&2a_2x&+&3a_3x^2&+&\dots&+&(n-1)a_{n-1}x^{n-2}&+&na_{n }x^{n-1}& & & & \\ & &-&2a_0x&-&2a_1x^2&-&\dots&-& 2a_{n-3}x^{n-2}&-&2a_{n-2}x^{n-1}&-&2a_{n-1}x^n&-&2a_nx^{n+1} \end{array} \\ &= a_1 + (2a_2-2a_0)x + (3a_3-2a_1)x^2 %+ %(4a_4-2a_2)x^3 + \dots + (na_n-2a_{n-2})x^{n-1} - 2a_{n-1}x^n - 2a_nx^{n+1}. \end{align*} Koeffizientenvergleich zeigt, dass $a_1=1$ sein muss. Aus den letzten zwei Termen liest man ebenfalls mittels Koeffizientenvergleich ab, dass $a_n=0$ und $a_{n-1}=0$ sein müssen. Aus den Koeffizienten $(ka_k-2a_{k-2})=0$ folgt, dass $a_{k-2}=\frac{k}{2}a_k$ für alle $k>1$ sein muss, diese Koeffizienten verschwinden also auch, inklusive $a_1=0$. Dies ist allerdings im Widerspruch zu $a_1=1$. Es folgt, dass $r(x)$ kein Polynom sein kann. Der Nenner der rationalen Funktion $r(x)$ hat also mindestens eine Nullstelle $\alpha$, man kann daher $r(x)$ auch schreiben als \[ r(x) = \frac{s(x)}{(x-\alpha)^n}, \] wobei die rationale Funktion $s(x)$ keine Nullstellen und keine Pole hat. Einsetzen in die Differentialgleichung ergibt: \[ 1 = r'(x) -2xr(x) = \frac{s'(x)}{(x-\alpha)^n} -n \frac{s(x)}{(x-\alpha)^{n+1}} - \frac{2xs(x)}{(x-\alpha)^n}. \] Multiplizieren mit $(x-\alpha)^{n+1}$ gibt \[ (x-\alpha)^{n+1} = s'(x)(x-\alpha) - ns(x) - 2xs(x)(x-\alpha) \] Setzt man $x=\alpha$ ein, verschwinden alle Terme ausser dem mittleren auf der rechten Seite, es bleibt \[ ns(\alpha) = 0. \] Dies widerspricht aber der Wahl der rationalen Funktion $s(x)$, für die $\alpha$ keine Nullstelle ist. Somit kann es keine rationale Funktion $r(x)$ geben, die eine Lösung der Differentialgleichung~\eqref{buch:integrale:expx2dgl} ist und die Funktion $e^{-x^2}$ hat keine elementare Stammfunktion. \end{proof} Der Satz~\ref{buch:iintegrale:satz:expx2} rechtfertigt die Einführung der Fehlerfunktion $\operatorname{erf}(x)$ als neue spezielle Funktion, mit deren Hilfe die Funktion $e^{-x^2}$ integriert werden kann.