% % orthogonal.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Orthogonale Funktionenfamilien \label{buch:orthogonalitaet:section:orthogonale-funktionen}} \rhead{Orthogonale Funktionenfamilien} Die Fourier-Theorie basiert auf der Idee, Funktionen durch Funktionenreihen mit Summanden zu bilden, die im Sinne eines Skalarproduktes orthogonal sind, welches mit Hilfe eines Integrals definiert sind. Solche Funktionenfamilien treten jedoch auch als Lösungen von Differentialgleichungen auf. Besonders interessant wird die Situation, wenn die Funktionen Polynome sind. In diesem Abschnitt soll zunächst das Skalarprodukt definiert und an Hand von Beispielen gezeigt werden, wie verschiedenartige interessante Familien von orthogonalen Polynomen gewonnen werden können. % % Skalarprodukt % \subsection{Skalarprodukt} Der reelle Vektorraum $\mathbb{R}^n$ trägt das Skalarprodukt \[ \langle\;\,,\;\rangle \colon \mathbb{R}^n \times \mathbb{R}^n \to \mathbb{R} : (x,y)\mapsto \langle x, y\rangle = \sum_{k=1}^n x_iy_k, \] welches viele interessante Anwendungen ermöglicht. Eine orthonormierte Basis macht es zum Beispiel besonders leicht, eine Zerlegung eines Vektors in dieser Basis zu finden. In diesem Abschnitt soll zunächst an die Eigenschaften erinnert werden, die zu einem nützlichen \subsubsection{Eigenschaften eines Skalarproduktes} Das Skalarprodukt erlaubt auch, die Länge eines Vektors $v$ als $|v| = \sqrt{\langle v,v\rangle}$ zu definieren. Dies funktioniert natürlich nur, wenn die Wurzel auch immer definiert ist, d.~h.~das Skalarprodukt eines Vektors mit sich selbst darf nicht negativ sein. Dazu dient die folgende Definition. \begin{definition} Sei $V$ ein reeller Vektorraum. Eine bilineare Abbildung \[ \langle\;\,,\;\rangle \colon V\times V \to \mathbb{R} : (u,v) \mapsto \langle u,v\rangle. \] heisst {\em positiv definit}, wenn für alle Vektoren $v \in V$ mit $v\ne 0 \Rightarrow \langle v,v\rangle > 0$ Die {\em Norm} eines Vektors $v$ ist $|v|=\sqrt{\langle v,v\rangle}$. \end{definition} Damit man mit dem Skalarprodukt sinnvoll rechnen kann, ist ausserdem erforderlich, dass es eine einfache Beziehung zwischen $\langle x,y\rangle$ und $\langle y,x\rangle$ gibt. \begin{definition} Ein {\em Skalarprodukt} auf einem reellen Vektorraum $V$ ist eine positiv definite, symmetrische bilineare Abbildung \[ \langle\;\,,\;\rangle \colon V\times V \to \mathbb{R} : (u,v) \mapsto \langle u,v\rangle. \] \end{definition} Das Skalarprodukt $\langle u,v\rangle=u^tv$ auf dem Vektorraum $\mathbb{R}^n$ erfüllt die Definition ganz offensichtlich, sie führt auf die Komponentendarstellung \[ \langle u,v\rangle = u^tv = \sum_{k=1}^n u_iv_i. \] Weitere Skalarprodukte ergeben ergeben sich mit jeder symmetrischen, positiv definiten Matrix $G$ und der Definition $\langle u,v\rangle_G=u^tGv$. Ein einfacher Spezialfall tritt auf, wenn $G$ eine Diagonalmatrix $\operatorname{diag}(w_1,\dots,w_n)$ mit positiven Einträgen $w_i>0$ auf der Diagonalen ist. In diesem Fall schreiben wir \[ \langle u,v\rangle_w = u^t\operatorname{diag}(w_1,\dots,w_n)v = \sum_{k=1}^n u_iv_i\,w_i \] und nennen $\langle \;\,,\;\rangle_w$ das {\em gewichtete Skalarprodukt} mit {\em Gewichten $w_i$}. \subsubsection{Skalarprodukte auf Funktionenräumen} Das Integral ermöglicht jetzt, ein Skalarprodukt auf dem reellen Vektorraum der stetigen Funktionen auf einem Intervall zu definieren. \begin{definition} \label{buch:orthogonal:def:skalarprodukt} Sei $V$ der reelle Vektorraum $C([a,b])$ der reellwertigen, stetigen Funktion auf dem Intervall $[a,b]$. Dann ist \[ \langle\;\,,\;\rangle \colon C([a,b]) \times C([a,b]) \to \mathbb{R} : (f,g) \mapsto \langle f,g\rangle = \int_a^b f(x)g(x)\,dx. \] ein Skalarprodukt. \end{definition} Die Definition ist offensichtlich symmetrisch in $f$ und $g$ und aus den Eigenschaften des Integrals ist klar, dass das Produkt bilinear ist: \begin{align*} \langle \lambda_1 f_1+\lambda_2f_2,g\rangle &= \int_a^b (\lambda_1f_(x) +\lambda_2f_2(x))g(x)\,dx = \lambda_1\int_a^b f_1(x) g(x)\,dx + \lambda_2\int_a^b f_2(x) g(x)\,dx \\ &= \lambda_1\langle f_1,g\rangle + \lambda_2\langle f_2,g\rangle. \end{align*} Ausserdem ist es positiv definit, denn wenn $f(x_0) \ne 0$ ist, dann gibt es wegen der Stetigkeit von $f$ eine Umgebung $U=[x_0-\varepsilon,x_0+\varepsilon]$, derart, dass $|f(x)| > \frac12|f(x_0)|$ ist für alle $x\in U$. Somit ist das Integral \[ \langle f,f\rangle = \int_a^b |f(x)|^2\,dx \ge \int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} |f(x)|^2\,dx \ge \int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} \frac14|f(x_0)|^2\,dx = \frac{1}{4}|f(x_0)|^2\cdot 2\varepsilon = \frac{|f(x_0)|^2\varepsilon}{2} >0, \] was beweist, dass $\langle\;,\;\rangle$ positiv definit und damit ein Skalarprodukt ist. Die Definition kann noch etwas verallgemeinert werden, indem die Funktionswerte nicht überall auf dem Definitionsbereich gleich gewichtet werden. \begin{definition} \label{buch:orthogonal:def:skalarproduktw} Sei $w\colon [a,b]\to \mathbb{R}^+$ eine positive, stetige Funktion, dann ist \[ \langle\;\,,\;\rangle_w \colon C([a,b]) \times C([a,b]) \to \mathbb{R} : (f,g) \mapsto \langle f,g\rangle_w = \int_a^b f(x)g(x)\,w(x)\,dx. \] das {\em gewichtete Skalarprodukt} mit {\em Gewichtsfunktion $w(x)$}. \end{definition} \subsection{Gram-Schmidt-Orthonormalisierung} In einem reellen Vektorraum $V$ mit Skalarprodukt $\langle\;\,,\;\rangle$ kann aus einer beleibigen Basis $b_1,\dots,b_n$ mit Hilfe des Gram-Schmidtschen Orthogonalisierungsverfahrens immer eine orthonormierte Basis $\tilde{b}_1,\dots,\tilde{b}_n$ Basis gewonnen werden. Es stellt sicher, dass für alle $k\le n$ gilt \[ \langle b_1,\dots,b_k\rangle = \langle \tilde{b}_1,\dots,\tilde{b}_k\rangle. \] Zur Vereinfachung der Formeln schreiben wir $v^0=v/|v|$ für einen zu $v$ parallelen Einheitsvektor. Die Vektoren $\tilde{b}_i$ können mit Hilfe der Formeln \begin{align*} \tilde{b}_1 &= (b_1)^0 \\ \tilde{b}_2 &= \bigl( b_2 - \langle \tilde{b}_1,b_2\rangle \tilde{b}_1 \bigr)^0 \\ \tilde{b}_3 &= \bigl( b_3 - \langle \tilde{b}_1,b_3\rangle \tilde{b}_1 - \langle \tilde{b}_2,b_3\rangle \tilde{b}_2 \bigr)^0 \\ &\;\vdots \\ \tilde{b}_n &= \bigl( b_n - \langle \tilde{b}_1,b_n\rangle \tilde{b}_1 - \langle \tilde{b}_2,b_n\rangle \tilde{b}_2 -\dots - \langle \tilde{b}_{n-1},b_n\rangle \tilde{b}_{n-1} \bigr)^0 \end{align*} iterativ berechnet werden. Dieses Verfahren lässt sich auch auf Funktionenräume anwenden. Die Normierung ist nicht unbedingt nötig und manchmal unangenehm, da die Norm unschöne Quadratwurzeln einführt. Falls es genügt, eine orthogonale Basis zu finden, kann darauf verzichtet werden, bei der Orthogonalisierung muss aber berücksichtigt werden, dass die Vektoren $\tilde{b}_i$ jetzt nicht mehr Einheitslänge haben. Die Formeln \begin{align*} \tilde{b}_0 &= b_0 \\ \tilde{b}_1 &= b_1 - \frac{\langle b_1,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 \\ \tilde{b}_2 &= b_2 - \frac{\langle b_2,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 - \frac{\langle b_2,\tilde{b}_1\rangle}{\langle \tilde{b}_1,\tilde{b}_1\rangle}\tilde{b}_1 \\ &\;\vdots \\ \tilde{b}_n &= b_n - \frac{\langle b_n,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 - \frac{\langle b_n,\tilde{b}_1\rangle}{\langle \tilde{b}_1,\tilde{b}_1\rangle}\tilde{b}_1 - \dots - \frac{\langle b_n,\tilde{b}_{n-1}\rangle}{\langle \tilde{b}_{n-1},\tilde{b}_{n-1}\rangle}\tilde{b}_{n-1}. \end{align*} berücksichtigen dies. % % Legendre-Polynome % \subsection{Legendre-Polynome \label{buch:orthogonal:subsection:legendre-polynome}} Der Gram-Schmidtsche Orthogonalisierungsprozess kann für jedes beliebige Skalarprodukt aus der Folge $1$, $x$, $x^2,\dots$ der Monome ein Folge von orthogonalisierten Polynomen machen. In diesem Abschnitt rechnen wir den Fall konstanter Gewichtsfunktione $w(x)=1$ durch, er führt auf die sogenannten {\em Legendre-Polynome}. Da wir auf die Normierung verzichten, brauchen wir ein anderes Kriterium, welches die Polynome eindeutig festlegen kann. Wir bezeichnen das Polynom vom Grad $n$, das bei diesem Prozess entsteht, mit $P_n(x)$ und legen willkürlich aber traditionskonform fest, dass $P_n(1)=1$ sein soll. % % Symmetrie-Eigenschaften % \subsubsection{Symmetrieeigenschaften} Das Skalarprodukt berechnet ein Integral eines Produktes von zwei Polynomen über das symmetrische Interval $[-1,1]$. Ist die eine gerade und die andere ungerade, dann ist das Produkt eine ungerade Funktion und das Skalarprodukt verschwindet. Sind beide Funktionen gerade oder ungerade, dann ist das Produkt gerade und das Skalarprodukt ist im Allgmeinen von $0$ verschieden. Dies zeigt, dass es tatsächlich etwas zu Orthogonalisieren gibt. Die ersten beiden Funktionen sind das konstante Polynom $1$ und das Polynome $x$. Nach obiger Beobachtung ist das Skalarprodukt $\langle 1,x\rangle=0$, also ist $P_1(x)=x$. Die Graphen der entstehenden Polynome sind in Abbildung~\ref{buch:integral:orthogonal:legendregraphen} dargestellt. \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/070-orthogonalitaet/images/legendre.pdf} \caption{Graphen der Legendre-Polynome $P_n(x)$ für $n=1,\dots,10$. \label{buch:integral:orthogonal:legendregraphen}} \end{figure} \begin{lemma} \label{buch:orthogonal:lemma:symmetrie} Die Polynome $P_{2n}(x)$ sind gerade, die Polynome $P_{2n+1}(x)$ sind ungerade Funktionen von $x$. \end{lemma} \begin{proof}[Beweis] Wir verwenden vollständige Induktion nach $n$. Wir wissen bereits, dass $P_0(x)=1$ und $P_1(x)=x$ die verlangten Symmetrieeigenschaften haben. Im Sinne der Induktionsannahme nehmen wir daher an, dass die Symmetrieeigenschaften für $P_k(x)$, $k{$}c<{$}|>{$}l<{$}|} \hline n&P_n(x)\\ \hline 0&1 \\ 1&x \\ 2&\frac12(3x^2-1) \\ 3&\frac12(5x^3-3x) \\ 4&\frac18(35x^4-30x^2+3) \\ 5&\frac18(63x^5-70x^3+15x) \\ 6&\frac1{16}(231x^6-315x^4+105x^2-5) \\ 7&\frac1{16}(429x^7-693x^5+315x^3-35x) \\ 8&\frac1{128}(6435x^8-12012x^6+6930x^4-1260x^2+35) \\ 9&\frac1{128}(12155x^9-25740x^7+18018x^5-4620x^3+315x) \\ 10&\frac1{256}(46189x^{10}-109395x^8+90090x^6-30030x^4+3465x^2-63) \\[2pt] \hline \end{tabular} \caption{Die Legendre-Polynome $P_n(x)$ für $n=0,1,\dots,10$ sind orthogonale Polynome vom Grad $n$, die den Wert $P_n(1)=1$ haben. \label{buch:integral:table:legendre-polynome}} \end{table} Die so konstruierten Polynome heissen die {\em Legendre-Polynome}. Durch weitere Durchführung des Verfahrens liefert die Polynome in Tabelle~\ref{buch:integral:table:legendre-polynome}. Die Graphen sind in Abbildung~\ref{buch:integral:orthogonal:legendregraphen} dargestellt. Abbildung~\ref{buch:integral:orthogonal:legendreortho} illustriert, dass die beiden Polynome $P_4(x)$ und $P_7(x)$ orthogonal sind. Das Produkt $P_4(x)\cdot P_7(x)$ hat Integral $=0$. % % Verschiedene Gewichtsfunktionen % \subsection{Gewichtsfunktionen \label{buch:orthogonal:subsection:gewichtsfunktionen}} Das Standardskalarprodukt auf dem Raum der Funktionen auf dem Interval $[-1,1]$ ist das Skalarprodukt mit der Gewichtsfunktion $w(x)=1$, es führt auf die Legendre-Polynome. Die Wahl einer anderen Gewichtsfunktion ändert natürlich das Resultat der Orthogonalisierung. Nullstellen und Pole der Gewichtsfunktion ändern die Menge der Funktionen, für die das Skalarprodukt definiert. Diesem Zusammenhang soll im ersten Unterabschnitt nachgegangen werden. Danach sollen verschiedene für die Praxis relevante Gewichtsfunktionen vorgestellt werden. \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/070-orthogonalitaet/images/weight.pdf} \caption{Nullstellen und Pole der Gewichtsfunktion (rot) legen Ort und Grad von Polen und Nullstellen der Funktionen fest, die beschränkte $\|\,\cdot\,\|_w$-Norm haben. An den Stellen $\pm 1$ und $\pm\frac12$ hat die Gewichtsfunktion Pole bzw.~Nullstellen mit Grad $\alpha$. Der blaue Bereich deutet an, wie schnell die Funktion $f$ in diesem Bereich anwachsen kann, bzw.~wie schnell nahe der Polstelle gegen $0$ gehen muss. \label{buch:orthogonalitaet:fig:gewicht}} \end{figure} % % Pole und Nullstellen der Gewichtsfunktion % \subsubsection{Pole und Nullstellen \label{buch:orthogonal:pole-und-nullstellen}} Das Skalarprodukt $\langle\,\;,\;\rangle_w$ ist nur sinnvoll für Funktionen $f(x)$, für die die Norm $\|f\|_w$ definiert ist. An einer Nullstelle $x_0$ der Gewichtsfunktion $w$ darf die Funktion $f$ einen Pol haben. Solange $f(x)$ für $x\to x_0$ nicht zu schnell divergiert, kann das Produkt $|f(x)|^2 w(x)$ immer noch integrierbar sein. Um dies etwas genauer zu quantifizieren, nehmen wir an, dass $w(x)$ an der Stelle $x_0$ eine Nullstelle vom Grad $\alpha$ hat. Dies bedeutet, dass $w(x) \approx C|x-x_0|^\alpha$ ist für eine geeignete Konstante $C$ und für $|x-x_0|<\varepsilon$. Ein Pol von $f$ vom Grad $a$ an der Stelle $x_0$ führt entsprechend auf eine Abschätzung $|f(x)| \approx D|f(x)|^{-a}$ für $|x-x_0|<\varepsilon$. Dann ist \[ |f(x)|^2 w(x) \approx CD |x-x_0|^{\alpha-2a}. \] Für das Integral in der Nähe von $x_0$ ist \begin{align*} \int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} |f(x)|^2 w(x)\,dx &\approx CD \int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} |x-x_0|^{\alpha-2a}\,dx \\ &= 2CD \int_0^\varepsilon t^{\alpha-2a} \,dt = 2CD \begin{cases} \displaystyle \; \biggl[\frac{t^{\alpha-2a+1}}{\alpha-2a+1}\biggr]_0^\varepsilon &\qquad \alpha-2a\ne-1 \\[7pt] \displaystyle \; \biggl[ \log t \biggr]_0^\varepsilon &\qquad \text{sonst.} \end{cases} \end{align*} Der Zähler $t^{\alpha-2a+1}$ divergiert für $t\to 0$ genau dann, wenn $\alpha-2a+1<0$ oder $\alpha<2a-1$. Auch im zweiten Fall, für $\alpha-2a+1=0$, divergiert das Integral. Damit die Norm $\|f\|_w$ definiert ist, muss also $a<\frac12(\alpha+1)$ sein. Ganz ähnlich führt eine Polstelle von $w$ vom Grad $\alpha$ an der Stelle $x_0$ dazu, dass $f$ dort eine Nullstelle vom Grad $a$ haben muss. Das Normintegral konvergiert nur, wenn $2a-\alpha > -1$ ist oder $a > \frac12(\alpha+1)$. Pole der Gewichtsfunktion schränken also ein, welche Funktionen überhaupt der Untersuchung mit Hilfe des Skalarproduktes $\langle\,\;,\;\rangle_w$ zugänglich sind (Abbildung~\ref{buch:orthogonalitaet:fig:gewicht}). Ist die Ordnung $\alpha$ des Poles grösser als $1$, dann müssen die Funktionen eine Nullstelle mindestens vom Grad $\frac12(a+1)$ haben. Nullstellen der Gewichtsfunktion erweitern die Klasse der Funktionen. Ist die Ordnung der Nullstelle $\alpha$, dann dürfen die Funktionen einen Pol der Ordnung kleiner als $\frac12(\alpha+1)$ haben. \begin{lemma} \label{buch:orthogonal:lemma:gewichtsfunktion} Sei $w(x)\ge 0$ auf dem Intervall $(a,b)$. Der Vektorraum $H_w$ von auf $(a,b)$ definierten Funktionen sei \[ H_w = \biggl\{ f\colon(a,b) \to \mathbb{R} \;\bigg|\; \int_a^b |f(x)|^2 w(x)\,dx <\infty \biggr\}. \] Die Funktionen $f\in H_w$ haben folgende Eigenschaften \begin{enumerate} \item Ist $\xi\in[a,b]$ eine Nullstelle vom Grad $\alpha$ der Funktion $w(x)$, dann \item Ist $\xi\in[a,b]$ eine Polstelle vom Grad $a$ der Funktion $w(x)$, dann hat $f$ eine Nullstelle mindestens from Grad \end{enumerate} \end{lemma} % % Die Jacobische Gewichtsfunktion % \subsubsection{Jacobische Gewichtsfunktion} Die Gewichtsfunktion für die Legendre-Polynome war $w(x)=1$, alle Punkte im Intervall $(-1,1)$ hatten das gleiche Gewicht. Diese soll jetzt ersetzt werden durch eine Gewichtsfunktion, die den Punkten an den Intervallenden mehr oder weniger Gewicht gibt, wobei auch zugelassen sein soll, dass die Gewichtung nicht symmetrisch ist. \begin{definition} \label{buch:orthogonal:def:jacobi-gewichtsfunktion} Die {\em Jacobi-Gewichtsfunktion} ist die Funktion \index{Jacobi-Gewichtsfunktion}% \[ w^{(\alpha,\beta)} \colon (-1,1)\to\mathbb{R} : x\mapsto w^{(\alpha,\beta)}(x) = (1-x)^\alpha(1+x)^\beta \] mit $\alpha,\beta\in\mathbb{R}$. Das Skalarprodukt zugehörige Skalarprodukt wird auch als \[ \langle\,\;,\;\rangle_{w^{(\alpha,\beta)}} = \langle\,\;,\;\rangle_{(\alpha,\beta)} \] bezeichnet und die zugehörige Norm mit \[ \|f\|_{(\alpha,\beta)} = \langle f,f\rangle_{(\alpha,\beta)} = \int_{-1}^1 |f(x)|^2 w^{(\alpha,\beta)}(x)\,dx. \] \end{definition} \begin{definition} \label{buch:orthogonal:def:jacobi-polynome} Die {\em Jacobi-Polynome} $P^{(\alpha,\beta)}_n(x)$ sind \index{Jacobi-Polynome}% Polynome vom Grad $n$, die bezüglich des Skalarproduktes $\langle\,\;,\;\rangle_{w^{(\alpha,\beta)}}$ orthogonal sind und mit \[ P_n^{(\alpha,\beta)}(1) = \binom{n+\alpha}n \] normiert sind. \end{definition} In Abbildung~\ref{buch:orthogonal:fig:jacobi-parameter} ist die Abhängigkeit der Jacobi-Polynome von den Parametern $\alpha$ und $\beta$ illustriert. Für $\alpha=\beta=0$ entsteht die Gewichtsfunktion $w^{(0,0)}(x)=1$, die Legendre-Polynome sind also der Spezialfall $\alpha=\beta=0$ der Jacobi-Polynome. Der Exponent $\alpha$ in der Gewichtsfunktion $w^{(\alpha,\beta)}(x)$ steuert das Gewicht, welches Punkte am rechten Rand des Intervalls erhalten. Für positive Werte von $\alpha$ hat $w^{(\alpha,\beta)}(x)$ eine Nullstelle vom Grad $\alpha$ an der Stelle $x=1$, nach Lemma~\ref{buch:orthogonal:lemma:gewichtsfunktion} dürfen die Funktionen einen Pole der Ordnung $<\frac12(\alpha-1)$ haben. Je grösser $\alpha$ ist, desto weniger Gewicht haben die Punkte am rechten Rand des Intervalls und desto schneller darf eine Funktion für $x\to 1$ divergieren. Für negative Werte von $\alpha$ hat $w^{(\alpha,\beta)}(x)$ einen Pol vom Grad $-\alpha$ an der Stelle $x=1$. Funktionen müssen daher also ein Nullstelle mindestens vom Grad $\frac12(1-\alpha)$ haben. \begin{figure} \centering \includegraphics[width=\textwidth]{chapters/070-orthogonalitaet/images/jacobi.pdf} \caption{Jacobi-Polynome vom Grad $1$ bis $14$ für verschiedene Werte der Parameter $\alpha$ und $\beta$. Je grösser $\alpha$, desto weniger Gewicht bekommen die Funktionswerte am rechten Rand und desto grösser werden die Funktionswerte. Für negative $\alpha$ müssen die Polynome dagegen eine Nullstelle am rechten Rand haben. \label{buch:orthogonal:fig:jacobi-parameter}} \end{figure} \subsubsection{Jacobi-Gewichtsfunktion und Beta-Verteilung \label{buch:orthogonal:subsection:beta-verteilung}} Die Jacobi-Gewichtsfunktion entsteht aus der Wahrscheinlichkeitsdichte der Beta-Verteilung, die in Abschnitt~\ref{buch:rekursion:subsection:beta-verteilung} eingeführt wurde mit Hilfe der Variablen-Transformation $x = 2t-1$ oder $t=(x+1)/2$. Das Integral mit der Jacobi-Gewichtsfunktion $w^{(\alpha,\beta)}(x)$ kann damit umgeformt werden in \begin{align*} \int_{-1}^1 f(x)\,w^{(\alpha,\beta)}(x)\,dx &= \int_0^1 f(2t-1) w^{(\alpha,\beta)}(2t-1)\,2\,dt \\ &= \int_0^1 f(2t-1) (1-(2t-1))^\alpha (1+(2t-1))^\beta \,2\,dt \\ &= 2^{\alpha+\beta+1} \int_0^1 f(2t-1) \, t^\beta (1-t)^\alpha \,dt \\ &= 2^{\alpha+\beta+1} B(\alpha+1,\beta+1) \int_0^1 f(2t-1) \, \frac{ t^\beta (1-t)^\alpha }{B(\alpha+1,\beta+1)} \,dt. \end{align*} Auf der letzten Zeile steht ein Integral mit der Wahrscheinlichkeitsdichte der Beta-Verteilung. Orthogonale Funktionen bezüglich der Jacobischen Gewichtsfunktion $w^{(\alpha,\beta)}$ werden mit der genannten Substitution also zu orthogonalen Funktionen bezüglich der Beta-Verteilung mit Parametern $\beta+1$ und $\alpha+1$. % % Tschebyscheff-Gewichtsfunktion % \subsubsection{Tschebyscheff-Gewichtsfunktion} Es wird später gezeigt werden, dass die Tschebyscheff-Polynome von Abschnitt~\ref{buch:polynome:section:tschebyscheff} eine Familie orthogonaler Polynome sein. Das zugehörige Skalarprodukt hat die Gewichtsfunktion \[ w_{\text{Tschebyscheff}}(x) = \frac{1}{\sqrt{1-x^2}} = \frac{1}{\sqrt{(1-x)(1+x)}} = (1-x)^{-\frac{1}{2}} (1+x)^{-\frac{1}{2}} = w^{(-\frac12,-\frac12)}(x). \] Die {\em Tschebyscheff-Gewichtsfunktion} ist also ein Spezialfall der Jacobi-Gewichtsfunktion. \index{Tschebyscheff-Gewichtsfunktion}% % % Hermite-Gewichtsfunktion % \subsubsection{Hermite-Gewichtsfunktion} Die Gewichtsfunktion \[ w_{\text{Hermite}}(x) = w(x) = e^{-\frac{x^2}{2}} \] heisst die {\em Hermite-Gewichtsfunktion}. \index{Hermite-Gewichtsfunktion}% Sie hat keine Nullstellen und geht für $x\to\pm\infty$ so schnell gegen $0$, dass für alle Polynome \[ \int_{-\infty}^\infty |f(x)|^2 e^{-\frac{x^2}{2}}\,dx<\infty \] ist. Als Definitionsintervall kann daher die ganze reelle Achse verwendet werden, also $a=-\infty$ und $b=\infty$. Die mit dieser Gewichtsfunktion konstruierten Polynome heissen bei geeigneter Normierung die {\em Hermite-Polynome}. % XXX Normierung der Hermite-Polynome festlegen \index{Hermite-Polynome}% % % Laguerre-Gewichtsfunktion % \subsubsection{Laguerre-Gewichtsfunktion} Ähnlich wie die Hermite-Gewichtsfunktion ist die {\em Laguerre-Gewichtsfunktion} \index{Laguerre-Gewichtsfunktion}% \[ w_{\text{Laguerre}}(x) = e^{-x} \] auf ganz $\mathbb{R}$ definiert, und sie geht für $x\to\infty$ wieder sehr rasch gegen $0$. Für $x\to-\infty$ hingegen wächst sie so schnell an, dass für alle Polynome $p(x)$ das Integral \[ \int_{-\infty}^\infty p(x)e^{-x}\,dx \] unbeschränkt ist. Die Laguerre-Gewichtsfunktion ist daher nur geeignet für den Definitionsbereich $(0,\infty)$. Die bezüglich der Laguerre-Gewichtsfunktion orthogonalen Polynome heissen bei geeigneter Normierung die {\em Laguerre-Polynome}. \index{Laguerre-Polynome}%