% % gleichung.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Gleichungen und Randbedingungen \label{buch:pde:section:gleichungen-und-randbedingungen}} \rhead{Gebiete, Gleichungen und Randbedingungen} Gewöhnliche Differentialgleichungen sind immer auf einem Intervall als Definitionsgebiet definiert. Partielle Differentialgleichungen sind Gleichungen, die verschiedene partielle Ableitungen einer Funktion mehrerer Variablen involvieren, das Definitionsgebiet ist daher immer eine höherdimensionale Teilmenge von $\mathbb{R}^n$. Sowohl das Gebiet wie auch dessen Rand können wesentlich komplexer sein. Eine sorgfältige Definition ist unabdingbar, um Widersprüchen vorzubeugen. % % Gebiete, Differentialoperatoren, Randbedingungen % \subsection{Gebiete, Differentialoperatoren, Randbedingungen} In diesem Abschnitt sollen die Begriffe geklärt werden, die zur korrekten Formulierung eines partiellen Differentialgleichungsproblems notwendig sind. % % Gebiete % \subsubsection{Gebiete} Gewöhnliche Differentialgleichungen haben nur eine unabhängige Variable, die gesuchte Lösungsfunktion ist auf eine Intervall in $\mathbb{R}$ definiert. Die Lösungsfunktion einer partiellen Differentialgleichung ist auf einer Teilmenge von $\mathbb{R}^n$ definiert, des ermöglicht wesentlich vielfältigere und kompliziertere Situationen. \begin{definition} \label{buch:pde:definition:gebiet} Ein Gebiet $G\subset\mathbb{R}^n$ ist eine offene Teilmenge von $\mathbb{R}^n$, d.~h.~für jeden Punkt $x\in G$ gibt es eine kleine Umgebung \( U_{\varepsilon}(x) = \{y\in\mathbb{R}^n\mid |x-y|<\varepsilon\} \), die ebenfalls in $G$ in enthalten ist, also $U_{\varepsilon}(x)\subset G$. \index{Gebiet}% \end{definition} % % Differentialoperatoren % \subsubsection{Differentialoperatoren} Eine gewöhnliche Differentialgleichung für eine Funktion ist eine Beziehung zwischen den Werten der Funktion und ihrer Ableitung in jedem Punkt des Definitionsintervalls. Eine partielle Differentialgleichung ist entsprechend eine Beziehung zwischen den Werten einer Funktion und ihren partiellen Ableitungen. Eine Funktion von mehreren Variablen hat sehr viel mehr partielle Ableitungen, bereits partielle Differentialgleichungen erster Ordnung sind daher sehr viel vielfältiger. Bei höheren partiellen Ableitungen kommen noch die zusätzliche Bedingungen \[ \frac{\partial^2 u}{\partial x_i\,\partial x_j} = \frac{\partial^2 u}{\partial x_j\,\partial x_i} \] hinzu, die für jedes Paar von Indizes $i,j$ ebenfalls erfüllt sein müssen. In diesem Kapitel betrachten wir ausschliesslich lineare Differentialgleichungen. Die Funktionswerte und partiellen Ableitungen lassen sich daher in der Form eines Operators \[ L = a + \sum_{i=1}^n b_i \frac{\partial}{\partial x_i} + \sum_{i,j=1}^n c_{ij} \frac{\partial^2}{\partial x_i\,\partial x_j} + \dots \] schreiben. Die Koeffizienten $a$, $b_i$, $c_{ij}$ können dabei durchaus auch Funktionen der unabhängigen Variablen sein. % % Laplace-Operator % \subsubsection{Laplace-Operator} Der {\em Laplace-Operator} hat in einem karteischen Koordinatensystem die Form \index{Laplace-Operator}% \[ \Delta = \frac{\partial^2}{\partial x_1^2} + \frac{\partial^2}{\partial x_2^2} + \dots + \frac{\partial^2}{\partial x_n^2}. \] Er zeichnet sich durch die Eigenschaft aus, dass eine beliebige Translation oder Drehung des Koordinatensystems den Wert von $\Delta u$ nicht ändert. Man könnte sagen, der Laplace-Operator ist symmetrisch bezüglich aller Bewegungen des Raumes. % % Wellengleichung % \subsubsection{Wellengleichung} Da die physikalischen Gesetze invariant sein müssen unter solchen Bewegungen, ist zu erwarten, dass der Laplace-Operator in partiellen Differentialgleichungen Als Beispiel betrachten wir die Ausbreitung einer Welle, welche sich in einem Medium mit der Geschwindigkeit $c$ ausbreitet. Ist $u(x,t)$ die Auslenkung der Welle im Punkt $x\in\mathbb{R}^n$ zur Zeit $t\in\mathbb{R}$, dann erfüllt die Funktion $u(x,t)$ die partielle Differentialgleichung \begin{equation} \frac{1}{c^2} \frac{\partial^2 u}{\partial t^2} = \Delta u. \label{buch:pde:eqn:waveequation} \end{equation} In dieser Gleichung treten nicht nur die partiellen Ableitungen nach den Ortskoordinaten auf, die der Laplace-Operator miteinander verknüpft. Die Funktion $u(x,t)$ ist definiert auf einem Gebiet in $\mathbb{R}^{n}\times\mathbb{R}=\mathbb{R}^{n+1}$ mit den Koordinaten $(x_1,\dots,x_n,t)$. Der Gleichung~\eqref{buch:pde:eqn:waveequation} ist daher eigentlich die Gleichung \[ \square u = 0 \qquad\text{mit}\quad \square = \frac{1}{c^2}\frac{^2}{\partial t^2} - \Delta = \frac{1}{c^2}\frac{\partial^2}{\partial t^2} - \frac{\partial^2}{\partial x_1^2} - \frac{\partial^2}{\partial x_2^2} -\dots- \frac{\partial^2}{\partial x_n^2} \] wird. Der Operator $\square$ heisst auch d'Alembert-Operator. \index{dAlembertoperator@d'Alembert-Operator}% % % Randbedingungen % \subsubsection{Randbedingungen} Die Differentialgleichung oder der Differentialoperator legen die Lösung nicht fest. Wie bei gewöhnlichen Differentialgleichungen ist dazu die Spezifikation geeigneter Randbedingungen nötig. \begin{definition} \label{buch:pde:definition:randbedingungen} Eine {\em Randbedingung} für das Gebiet $\Omega$ ist eine Teilmenge $F\subset\partial\Omega$ sowie eine auf $F$ definierte Funktion $f\colon F\to\mathbb{R}$. Eine Funktion $u\colon \overline{\Omega} \to\mathbb{R}$ erfüllt eine {\em Dirichlet-Randbedingung}, wenn \index{Dirichlet-Randbedingung}% \index{Randbedingung!Dirichlet-}% \( u(x) = f(x) \) für $x\in F$. Sie erfüllt eine {\em Neumann-Randbedingung}, wenn \index{Neumann-Randbedingung}% \index{Randbedingung!Neumann-}% \[ \frac{\partial u}{\partial n} = f(x)\qquad\text{für $x\in F$}. \] Dabei ist \[ \frac{\partial u}{\partial n} = \frac{d}{dt} u(x+tn) \bigg|_{t=0} = \operatorname{grad}u\cdot n \] \index{Normalableitung}% die {\em Normalableitung}, die Richtungsableitung in Richtung des Vektors $n$, der senkrecht ist auf dem Rand $\partial\Omega$ von $\Omega$. \end{definition} Die Vorgabe nur von Ableitungen kann natürlich die Lösung $u(x)$ einer linearen partiellen Differentialgleichung nicht eindeutig festlegen, dazu ist noch mindestens ein Funktionswert notwendig. Die Vorgabe von anderen Ableitungen in Richtungen tangential an den Rand liefert keine neue Information, denn ausgehend von dem einen Funktionswert auf dem Rand kann man durch Integration entlang einer Kurve auf dem Rand eine Neumann-Randbedingung konstruieren, die die gleiche Information beinhaltet wie Anforderungen an die tangentialen Ableitungen. Dirichlet- und Neumann-Randbedingungen sind daher die einzigen sinnvollen linearen Randbedingungen.