% % lemniskate.tex % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % \section{Lemniskatischer Sinus \label{buch:elliptisch:section:lemniskate}} \rhead{Lemniskatischer Sinus} Historisch war der {\em lemniskatische Sinus} die erste ellptische Funktion, die Gauss bereits als 19-jähriger untersucht, aber nicht veröffentlich hat. In diesem Abschnitt soll die Verbindung zu den Jacobischen elliptischen Funktionen hergestellt werden. \subsection{Lemniskate \label{buch:gemotrie:subsection:lemniskate}} \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/110-elliptisch/images/lemniskate.pdf} \caption{Bogenlänge und Radius der Lemniskate von Bernoulli. \label{buch:elliptisch:fig:lemniskate}} \end{figure} Die Lemniskate von Bernoulli ist die Kurve vierten Grades mit der Gleichung \begin{equation} (X^2+Y^2)^2 = 2a^2(X^2-Y^2). \label{buch:elliptisch:eqn:lemniskate} \end{equation} Sie ist in Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:lemniskate} dargestellt. Die beiden Scheitel der Lemniskate befinden sich bei $X_s=\pm a\sqrt{2}$. Dividiert man die Gleichung der Lemniskate durch $X_s^2=4a^4$ entsteht \begin{equation} \biggl( \biggl(\frac{X}{a\sqrt{2}}\biggr)^2 + \biggl(\frac{Y}{a\sqrt{2}}\biggr)^2 \biggr)^2 = 2\frac{a^2}{2a^2}\biggl( \biggl(\frac{X}{a\sqrt{2}}\biggr)^2 - \biggl(\frac{Y}{a\sqrt{2}}\biggr)^2 \biggr). \qquad \Leftrightarrow \qquad (x^2+y^2)^2 = x^2-y^2, \label{buch:elliptisch:eqn:lemniskatenormiert} \end{equation} wobei wir $x=X/a\sqrt{2}$ und $y=Y/a\sqrt{2}$ gesetzt haben. In dieser Normierung liegen die Scheitel bei $\pm 1$. Dies ist die Skalierung, die für die Definition des lemniskatischen Sinus und Kosinus verwendet werden soll. In Polarkoordinaten $x=r\cos\varphi$ und $y=r\sin\varphi$ gilt nach Einsetzen in \eqref{buch:elliptisch:eqn:lemniskatenormiert} \begin{equation} r^4 = r^2(\cos^2\varphi-\sin^2\varphi) = r^2\cos2\varphi \qquad\Rightarrow\qquad r^2 = \cos 2\varphi \label{buch:elliptisch:eqn:lemniskatepolar} \end{equation} als Darstellung der Lemniskate in Polardarstellung. Sie gilt für Winkel $\varphi\in[-\frac{\pi}4,\frac{\pi}4]$ für das rechte Blatt und $\varphi\in[\frac{3\pi}4,\frac{5\pi}4]$ für das linke Blatt der Lemniskate. \subsection{Bogenlänge} Die Funktionen \begin{equation} x(r) = \frac{r}{\sqrt{2}}\sqrt{1+r^2}, \quad y(r) = \frac{r}{\sqrt{2}}\sqrt{1-r^2} \label{buch:geometrie:eqn:lemniskateparam} \end{equation} erfüllen \begin{align*} x(r)^2-y(r)^2 &= \frac{r^2(1+r^2)}{2}-\frac{r^2(1-r^2)}{2} \\ & = r^4 = (x(r)^2 + y(r)^2)^2, \end{align*} sie stellen also eine Parametrisierung der Lemniskate dar. Mit Hilfe der Parametrisierung~\eqref{buch:geometrie:eqn:lemniskateparam} kann man die Länge $s$ des in Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:lemniskate} dargestellten Bogens der Lemniskate berechnen. Dazu benötigt man die Ableitungen nach $r$, die man mit der Produkt- und Kettenregel berechnen kann: \begin{align*} \dot{x}(r) &= \frac{\sqrt{1+r^2}}{\sqrt{2}} + \frac{r^2}{\sqrt{2}\sqrt{1+r^2}} &&\Rightarrow& \dot{x}(r)^2 &= \frac{1+r^2}{2} +r^2 + \frac{r^4}{2(1+r^2)} \\ \dot{y}(r) &= \frac{\sqrt{1-r^2}}{\sqrt{2}} - \frac{r^2}{\sqrt{2}\sqrt{1-r^2}} &&\Rightarrow& \dot{y}(r)^2 &= \frac{1-r^2}{2} -r^2 + \frac{r^4}{2(1-r^2)} \end{align*} Die Summe der Quadrate ist \begin{align*} \dot{x}(r)^2 + \dot{y}(r)^2 &= 1 + r^4\frac{1-r^2+1+r^2}{2(1+r^2)(1-r^2)} = 1+r^4\frac{2}{2(1-r^4)} = \frac{1-r^4+r^4}{1-r^4} = \frac1{1-r^4}. \end{align*} Durch Einsetzen in das Integral für die Bogenlänge bekommt man \begin{equation} s(r) = \int_0^r \frac{1}{\sqrt{1-t^4}}\,dt. \label{buch:elliptisch:eqn:lemniskatebogenlaenge} \end{equation} % % Als elliptisches Integral % \subsection{Darstellung als elliptisches Integral} Das unvollständige elliptische Integral erster Art mit Parameter $k^2=-1$ oder $k=i$ ist \[ K(r,i) = \int_0^x \frac{dt}{\sqrt{(1-t^2)(1-i^2 t^2)}} = \int_0^x \frac{dt}{\sqrt{(1-t^2)(1-(-1)t^2)}} = \int_0^x \frac{dt}{\sqrt{1-t^4}} = s(r). \] Der lemniskatische Sinus ist also eine Umkehrfunktion des elliptischen Integrals erster Art für den speziellen Wert $i$ des Parameters $k$. Die Länge des rechten Blattes der Lemniskate wird mit $\varpi$ bezeichnet und hat den numerischen Wert \[ \varpi = 2\int_0^1\sqrt{\frac{1}{1-t^4}}\,dt = 2.6220575542. \] $\varpi$ ist auch als die {\em lemniskatische Konstante} bekannt. \index{lemniskatische Konstante}% Der Lemniskatenbogen zwischen dem Nullpunkt und $(1,0)$ hat die Länge $\varpi/2$. % % Bogenlängenparametrisierung % \subsection{Bogenlängenparametrisierung} Die Lemniskate mit der Gleichung \[ (X^2+X^2)^2=2(X^2-X^2) \] (der Fall $a=1$ in \eqref{buch:elliptisch:eqn:lemniskate}) kann mit Jacobischen elliptischen Funktionen parametrisiert werden. Dazu schreibt man \[ \left. \begin{aligned} X(t) &= \sqrt{2}\operatorname{cn}(t,k) \operatorname{dn}(t,k) \\ Y(t) &= \phantom{\sqrt{2}} \operatorname{cn}(t,k) \operatorname{sn}(t,k) \end{aligned} \quad\right\} \qquad\text{mit $k=\displaystyle\frac{1}{\sqrt{2}}$} \] und berechnet die beiden Seiten der definierenden Gleichung der Lemniskate. Zunächst ist \begin{align*} X(t)^2 &= 2\operatorname{cn}(t,k)^2 \operatorname{dn}(t,k)^2 \\ Y(t)^2 &= \operatorname{cn}(t,k)^2 \operatorname{sn}(t,k)^2 \\ X(t)^2+Y(t)^2 &= 2\operatorname{cn}(t,k)^2 \bigl( \underbrace{ \operatorname{dn}(t,k)^2 +{\textstyle\frac12} \operatorname{sn}(t,k)^2 }_{\displaystyle =1} \bigr) %\\ %& = 2\operatorname{cn}(t,k)^2 \\ X(t)^2-Y(t)^2 &= \operatorname{cn}(t,k)^2 \bigl( 2\operatorname{dn}(t,k)^2 - \operatorname{sn}(t,k)^2 \bigr) \\ &= \operatorname{cn}(t,k)^2 \bigl( 2\bigl({\textstyle\frac12}+{\textstyle\frac12}\operatorname{cn}(t,k)^2\bigr) - \bigl(1-\operatorname{cn}(t,k)^2\bigr) \bigr) \\ &= 2\operatorname{cn}(t,k)^4 \\ \Rightarrow\qquad (X(t)^2+Y(t)^2)^2 &= 4\operatorname{cn}(t,k)^4 = 2(X(t)^2-Y(t)^2). \end{align*} Wir zeigen jetzt, dass dies tatsächlich eine Bogenlängenparametrisierung der Lemniskate ist. Dazu berechnen wir die Ableitungen \begin{align*} \dot{X}(t) &= \sqrt{2}\operatorname{cn}'(t,k)\operatorname{dn}(t,k) + \sqrt{2}\operatorname{cn}(t,k)\operatorname{dn}'(t,k) \\ &= -\sqrt{2}\operatorname{sn}(t,k)\operatorname{dn}(t,k)^2 -\frac12\sqrt{2}\operatorname{sn}(t,k)\operatorname{cn}(t,k)^2 \\ &= -\sqrt{2}\operatorname{sn}(t,k)\bigl( 1-{\textstyle\frac12}\operatorname{sn}(t,k)^2 +{\textstyle\frac12}-{\textstyle\frac12}\operatorname{sn}(u,t)^2 \bigr) \\ &= \sqrt{2}\operatorname{sn}(t,k) \bigl( {\textstyle \frac32}-\operatorname{sn}(t,k)^2 \bigr) \\ \dot{X}(t)^2 &= 2\operatorname{sn}(t,k)^2 \bigl( {\textstyle \frac32}-\operatorname{sn}(t,k)^2 \bigr)^2 \\ &= {\textstyle\frac{9}{2}}\operatorname{sn}(t,k)^2 - 6\operatorname{sn}(t,k)^4 +2\operatorname{sn}(t,k)^6 \\ \dot{Y}(t) &= \operatorname{cn}'(t,k)\operatorname{sn}(t,k) + \operatorname{cn}(t,k)\operatorname{sn}'(t,k) \\ &= -\operatorname{sn}(t,k)^2 \operatorname{dn}(t,k) +\operatorname{cn}(t,k)^2 \operatorname{dn}(t,k) \\ &= \operatorname{dn}(t,k)\bigl(1-2\operatorname{sn}(t,k)^2\bigr) \\ \dot{Y}(t)^2 &= \bigl(1-{\textstyle\frac12}\operatorname{sn}(t,k)^2\bigr) \bigl(1-2\operatorname|{sn}(t,k)^2\bigr)^2 \\ &= 1-{\textstyle\frac{9}{2}}\operatorname{sn}(t,k)^2 +6\operatorname{sn}(t,k)^4 -2\operatorname{sn}(t,k)^6 \\ \dot{X}(t)^2 + \dot{Y}(t)^2 &= 1. \end{align*} Dies bedeutet, dass die Bogenlänge zwischen den Parameterwerten $0$ und $s$ \[ \int_0^s \sqrt{\dot{X}(t)^2 + \dot{Y}(t)^2} \,dt = \int_0^s\,dt = s, \] der Parameter $t$ ist also ein Bogenlängenparameter. Die mit dem Faktor $1/\sqrt{2}$ skalierte Standard-Lemniskate mit der Gleichung \[ (x^2+y^2)^2 = x^2-y^2 \] hat daher eine Bogenlängenparametrisierung mit \begin{equation} \begin{aligned} x(t) &= \phantom{\frac{1}{\sqrt{2}}} \operatorname{cn}(\sqrt{2}t,k)\operatorname{dn}(\sqrt{2}t,k) \\ y(t) &= \frac{1}{\sqrt{2}}\operatorname{cn}(\sqrt{2}t,k)\operatorname{sn}(\sqrt{2}t,k) \end{aligned} \label{buch:elliptisch:lemniskate:bogenlaenge} \end{equation} \subsection{Der lemniskatische Sinus und Kosinus} Der Sinus Berechnet die Gegenkathete zu einer gegebenen Bogenlänge des Kreises, er ist die Umkehrfunktion der Funktion, die der Gegenkathete die Bogenlänge zuordnet. Daher ist es naheliegend, die Umkehrfunktion von $s(r)$ in \eqref{buch:elliptisch:eqn:lemniskatebogenlaenge} den {\em lemniskatischen Sinus} zu nennen mit der Bezeichnung $r=\operatorname{sl} s$. Der Kosinus ist der Sinus des komplementären Winkels. Auch für die lemniskatische Bogenlänge $s(r)$ lässt sich eine komplementäre Bogenlänge definieren, nämlich die Bogenlänge zwischen dem Punkt $(x(r), y(r))$ und $(1,0)$. Da die Parametrisierung~\eqref{buch:elliptisch:lemniskate:bogenlaenge} eine Bogenlängenparametrisierung ist, darf man $t=s$ schreiben. Dann kann man aber auch $r(s)$ daraus berechnen, es ist \[ r(s)^2 = x(s)^2 + y(s)^2 = \operatorname{cn}(s\sqrt{2},k)^2 \qquad\Rightarrow\qquad r(s) = \operatorname{cn}(s\sqrt{2},k) \] \begin{figure} \centering \includegraphics{chapters/110-elliptisch/images/slcl.pdf} \caption{ Lemniskatischer Sinus und Kosinus sowie Sinus und Kosinus mit derart skaliertem Argument, dass die Funktionen die gleichen Nullstellen haben. \label{buch:elliptisch:figure:slcl}} \end{figure}