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diff --git a/buch/chapters/05-zahlen/komplex.tex b/buch/chapters/05-zahlen/komplex.tex new file mode 100644 index 0000000..4ccea89 --- /dev/null +++ b/buch/chapters/05-zahlen/komplex.tex @@ -0,0 +1,380 @@ +% +% komplex.tex -- komplexe Zahlen +% +% (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule +% +\section{Komplexe Zahlen +\label{buch:section:komplexe-zahlen}} +\rhead{Komplexe Zahlen} +In den reellen Zahlen lassen sich viele algebraische Gleichungen lösen. +Andere, z.~B.~die Gleichung +\begin{equation} +x^2+1=0, +\label{buch:zahlen:eqn:igleichung} +\end{equation} +haben weiterhin keine Lösung. +Der Grund dafür ist das Bestreben bei der Konstruktion der reellen Zahlen, +die Ordnungsrelation zu erhalten. +Diese ermöglicht, Näherungsintervall und Intervallschachtelungen +zu definieren. + +Die Ordnungsrelation sagt aber auch, dass $x^2\ge 0$ ist für jedes +$x\in\mathbb{R}$, so dass $x^2+1>0$ sein muss. +Dies ist der Grund, warum die Gleichung \ref{buch:zahlen:eqn:igleichung} +keine Lösung in $\mathbb{R}$ haben kann. +Im Umkehrschluss folgt auch, dass eine Erweiterung der reellen Zahlen, +in der die Gleichung \eqref{buch:zahlen:eqn:igleichung} lösbar ist, +ohne die Ordnungsrelation auskommen muss. +Es muss darin Zahlen geben, deren Quadrat negativ ist und der +Grössenvergleich dieser Zahlen untereinander ist nur eingeschränkt +möglich. + +\subsubsection{Imaginäre und komplexe Zahlen} +Den reellen Zahlen fehlen also Zahlen, deren Quadrat negativ ist. +Nach inzwischen bewährtem Muster konstruieren wird die neuen Zahlen +daher als Paare $(a,b)$. +Die erste Komponente soll die bekannten reellen Zahlen darstellen, +deren Quadrat positiv ist. +Die zweite Komponente soll für die Zahlen verwendet werden, deren Quadrat +negativ ist. +Die Zahl, deren Quadrat $-1$ sein soll, bezeichnen wir auch mit dem +Paar $(0,1)$ und schreiben dafür auch $i=(0,1)$ mit $i^2=-1$. + +Die Rechenregeln sollen weiterhin erhalten bleiben, sie müssen daher +wie folgt definiert werden: +\begin{equation} +\begin{aligned} +(a,b) + (c,d) &= (a+c,b+d) & (a+bi) + (c+di) &= (a+c) + (b+d)i +\\ +(a,b) \cdot (c,d) & (ad-bd, ad+bc) & (a+bi)\cdot(c+di) &= ac-bd + (ad+bc)i. +\end{aligned} +\label{buch:zahlen:cregeln} +\end{equation} +Diese Regeln ergeben sich ganz natürlich aus den Rechenregeln +in $\mathbb{R}$ unter Berücksichtigung der Regel $i^2=-1$. + +Eine komplexe Zahl ist ein solches Paar, die Menge der komplexen Zahlen +ist +\[ +\mathbb{C} += +\{a+bi\;|\;a,b\in\mathbb{R}\} +\] +mit den Rechenoperationen~\eqref{buch:zahlen:cregeln}. +Die Menge $\mathbb{C}$ verhält sich daher wie eine zweidimensionaler +reeller Vektorraum. + +\subsubsection{Real- und Imaginärteil} +Ist $z=a+bi$ eine komplexe Zahl, dann heisst $a$ der Realteil $a=\Re z$ +und $b$ heisst der Imaginärteil $\Im z$. +Real- und Imaginärteil sind lineare Abbildungen $\mathbb{C}\to\mathbb{R}$, +sie projizieren einen Punkt auf die Koordinatenachsen, die entsprechend +auch die reelle und die imaginäre Achse heissen. + +Die Multiplikation mit $i$ vertauscht Real- und Imaginärteil: +\[ +\Re (iz) += +-b += +-\Im z +\qquad\text{und}\qquad +\Im (iz) += +a += +\Re z. +\] +Zusätzlich kehrt das Vorzeichen der einen Komponente. +Wir kommen auf diese Eigenschaft zurück, wenn wir später in Abschnitt~XXX +komplexe Zahlen als Matrizen beschreiben. + +\subsubsection{Komplexe Konjugation} +Der komplexen Zahl $u=a+bi$ ordnen wir die sogenannte +{\em komplex konjugierte} Zahl $\overline{z} = a-bi$. +Mit Hilfe der komplexen Konjugation kann man den Real- und Imaginärteil +algebraisch ausdrücken: +\[ +\Re z += +\frac{z+\overline{z}}2 += +\frac{a+bi+a-bi}{2} += +\frac{2a}2 +=a +\qquad\text{und}\qquad +\Im z += +\frac{z-\overline{z}}{2i} += +\frac{a+bi-a+bi}{2i} += +\frac{2bi}{2i} += +b. +\] +In der Gaussschen Zahlenebene ist die komplexe Konjugation eine +Spiegelung an der reellen Achse. + +\subsubsection{Betrag} +In $\mathbb{R}$ kann man die Ordnungsrelation dazu verwenden zu entscheiden, +ob eine Zahl $0$ ist. +Wenn $x\ge 0$ ist und $x\le 0$, dann ist $x=0$. +In $\mathbb{C}$ steht diese Ordnungsrelation nicht mehr zur Verfügung. +Eine komplexe Zahl ist von $0$ verschieden, wenn die Länge des Vektors in der +Zahlenebene verschieden von $0$ ist. +Wir definieren daher den Betrag einer komplexen Zahl $z=a+bi$ als +\[ +|z|^2 += +a^2 +b^2 += +(\Re z)^2 + (\Im z)^2 +\qquad\Rightarrow\qquad +|z| += +\sqrt{a^2+b^2} += +\sqrt{(\Re z)^2 + (\Im z)^2}. +\] +Der Betrag lässt sich auch mit Hilfe der komplexen Konjugation ausdrücken, +es ist $z\overline{z} = (a+bi)(a-bi) = a^2+abi-abi+b^2 = |z|^2$. +Der Betrag ist immer eine reelle Zahl. + +\subsubsection{Division} +Die Erweiterung zu den komplexen Zahlen muss auch die Division erhalten. +Dies ist durchaus nicht selbstverständlich. +Man kann zeigen, dass ein Produkt von Vektoren eines Vektorraums nur für +einige wenige, niedrige Dimensionen überhaupt möglich ist. +Für die Division sind die Einschränkungen noch gravierender, die einzigen +Dimensionen $>1$, in denen ein Produkt mit einer Division definiert werden +kann\footnote{Der Beweis dieser Aussage ist ziemlich schwierig und wurde +erst im 20.~Jahrhundert mit Hilfe der Methoden der algebraischen Topologie +erbracht. Eine Übersicht über den Beweis kann in Kapitel~10 von +\cite{buch:ebbinghaus} gefunden werden.}, sind $2$, $4$ und $8$. +Nur in Dimension $2$ ist ein kommutatives Produkt möglich, dies muss das +Produkt der komplexen Zahlen sein. + +Wie berechnet man den Quotienten $\frac{z}{w}$ für zwei beliebige komplexe +Zahlen $z=a+bi$ und $w=c+di$ mit $w\ne 0$? +Dazu erweitert man den Bruch mit der komplex konjugierten des Nenners: +\begin{align*} +\frac{z}{w} +&= +\frac{z\overline{w}}{w\overline{w}} += +\frac{z\overline{w}}{|w|^2} +\end{align*} +Da der Nenner $|w|^2>0$ eine reelle Zahl ist, ist die Division einfach, +es ist die Multiplikation mit der reellen Zahl $1/|w|^2$. + +Wir können den Quotienten auch in Komponenten ausdrücken: +\begin{align*} +\frac{z}{w} +&= +\frac{a+bi}{c+di} += +\frac{(a+bi)(c+di)}{(c+di)(c-di)} += +\frac{ac-bd +(ad+bc)i}{c^2+d^2}. +\end{align*} + +\subsubsection{Gausssche Zahlenebene} +Beschränkt man die Multiplikation auf einen reellen Faktor, wird $\mathbb{C}$ +zu einem zweidimensionalen reellen Vektorraum. +Man kann die komplexe Zahl $a+bi$ daher auch als Punkt $(a,b)$ in der +sogenannten Gaussschen Ebene betrachten. +Die Addition von komplexen Zahlen ist in diesem Bild die vektorielle +Addition, die Multiplikation mit reellen Zahlen werden wir weiter unten +genauer untersuchen müssen. + +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/05-zahlen/images/komplex.pdf} +\caption{Argument und Betrag einer komplexen Zahl $z=a+ib$ in der +Gaussschen Zahlenebene +\label{buch:zahlen:cfig}} +\end{figure} +Die Zahlenebene führt auf eine weitere Parametrisierung einer +komplexen Zahl. +Ein Punkt $z$ der Ebene kann in Polarkoordinaten auch durch den Betrag +und den Winkel zwischen der reellen Achse und dem Radiusvektor zum Punkt +beschrieben werden. + + +\subsubsection{Geometrische Interpretation der Rechenoperationen} +Die Addition kompelxer Zahlen wurde bereits als Vektoraddition +in der Gausschen Zahlenebene. +Die Multiplikation ist etwas komplizierter, wir berechnen Betrag +und Argument von $zw$ separat. +Für den Betrag erhalten wir +\begin{align*} +|zw|^2 +&= +z\overline{z}w\overline{w} += +|z|^2|w|^2 +\end{align*} +Der Betrag des Produktes ist also das Produkt der Beträge. + +Für das Argument verwenden wir, dass +\[ +\tan\operatorname{arg}z += +\frac{\Im z}{\Re z} += +\frac{b}{a} +\qquad\Rightarrow\qquad +b=a\tan\operatorname{arg}z +\] +und analog für $w$. +Bei der Berechnung des Produktes behandeln wir nur den Fall $a\ne 0$ +und $c\ne 0$, was uns ermöglicht, den Bruch durch $ac$ zu kürzen: +\begin{align*} +\tan\arg wz +&= +\frac{\Im wz}{\Re wz} += +\frac{ad+bc}{ac-bd} += +\frac{\frac{d}{c} + \frac{b}{a}}{1-\frac{b}{a}\frac{d}{c}} += +\frac{ +\tan\operatorname{arg}z+\tan\operatorname{arg}w +}{ +1+ +\tan\operatorname{arg}z\cdot\tan\operatorname{arg}w +} += +\tan\bigl( +\operatorname{arg}z+\operatorname{arg}w +\bigr). +\end{align*} +Im letzten Schritt haben wir die Additionsformel für den Tangens verwendet. +Daraus liest man ab, dass das Argument eines Produkts die Summe der +Argumente ist. +Die Multiplikation mit einer festen komplexen Zahl führt also mit der ganzen +komplexen Ebene eine Drehstreckung durch. +Auf diese geometrische Beschreibung der Multiplikation werden wir zurückkommen, +wenn wir die komplexen Zahlen als Matrizen beschreiben wollen. + +\subsubsection{Algebraische Vollständigkeit} +Die komplexen Zahlen $\mathbb{C}$ sind als Erweiterung von $\mathbb{R}$ +so konstruiert worden, dass die Gleichung $x^2+1=0$ eine Lösung hat. +Etwas überraschend ist dagegen, dass in dieser Erweiterung jetzt jede +beliebige algebraische Gleichung lösbar geworden. +Dies ist der Inhalt des Fundamentalsatzes der Algebra. + +\begin{satz}[Fundamentalsatz der Algebra] +\index{Fundamentalsatz der Algebra}% +Jede algebraische Gleichung der Form +\[ +p(x)=x^n + a_{n-1}x^{n-1}+a_1x+a_0=0,\qquad a_k\in\mathbb{C} +\] +mit komplexen Koeffizienten hat $n$ möglicherweise mit Vielfachheit +gezähle Nullstellen $\alpha_1,\dots,\alpha_m$, d.~h.~das Polynom $p(x)$ +lässt sich in Linearfaktoren +\[ +p(x) += +(x-\alpha_1)^{k_1}(x-\alpha_2)^{k_2}\cdot\ldots\cdot(x-\alpha_m)^{k_m} +\] +zerlegen, wobei $k_1+k_2+\dots+k_m=n$. +Die Zahlen $k_j$ heisst die {\em Vielfachheit} der Nullstelle $\alpha_j$. +\end{satz} + +Der Fundamentalsatz der Algebra wurde erstmals von Carl Friedrich Gauss +\index{Gauss, Carl Friedrich}% +bewiesen. +Seither sind viele alternative Beweise mit Methoden aus den verschiedensten +Gebieten der Mathematik gegeben worden. +Etwas salopp könnten man sagen, dass der Fundamentalsatz ausdrückt, dass +die Konstruktion der Zahlensysteme mit $\mathbb{C}$ abgeschlossen ist, +soweit damit die Lösbarkeit beliebiger Gleichungen angestrebt ist. + +\subsubsection{Quaternionen und Octonionen} +Die komplexen Zahlen ermöglichen eine sehr effiziente Beschreibung +geometrischer Abbildungen wie Translationen, Spiegelungen und +Drehstreckungen in der Ebene. +Es drängt sich damit die Frage auf, ob sich $\mathbb{C}$ so erweitern +lässt, dass man damit auch Drehungen im dreidimensionalen Raum +beschreiben könnte. +Da Drehungen um verschiedene Achsen nicht vertauschen, kann eine solche +Erweiterung nicht mehr kommutativ sein. + +William Rowan Hamilton propagierte ab 1843 eine Erweiterung von $\mathbb{C}$ +mit zwei zusätzlichen Einheiten $j$ und $k$ mit den nichtkommutativen +Relationen +\begin{equation} +i^2 = j^2 = k^2 = ijk = -1. +\label{buch:zahlen:eqn:quaternionenregeln} +\end{equation} +Er nannte die Menge aller Linearkombinationen +\[ +\mathbb{H} = \{ a_0+a_1i+a_2j+a_3k\;|\; a_l\in \mathbb{R}\} +\] +die {\em Quaternionen}, die Einheiten $i$, $j$ und $k$ heissen auch +\index{Quaternionen}% +Einheitsquaternionen. +\index{Einheitsquaternionen}% +Konjugation, Betrag und Division können ganz ähnlich wie bei den +komplexen Zahlen definiert werden und machen $\mathbb{H}$ zu einer +sogenannten {\em Divisionsalgebra}. +\index{Divisionsalgebra}% +Alle Rechenregeln mit Ausnahme der Kommutativität der Multiplikation +sind weiterhin gültig und durch jede von $0$ verschiedene Quaternion +kann auch dividiert werden. + +Aus den Regeln für die Quadrate der Einheiten in +\eqref{buch:zahlen:eqn:quaternionenregeln} folgt zum Beispiel +$i^{-1}=-i$, $j^{-1}=-j$ und $k^{-1}=-k$. +Die letzte Bedingung liefert daraus +\[ +ijk=-1 +\qquad\Rightarrow\qquad +\left\{ +\quad +\begin{aligned} +ij +&= +ijkk^{-1}=-1k^{-1}=k +\\ +i^2jk&=-i=-jk +\\ +-j^2k&=-ji=k +\end{aligned} +\right. +\] +Aus den Relationen~\eqref{buch:zahlen:eqn:quaternionenregeln} +folgt also insbesondere auch, dass $ij=-ji$. +Ebenso kann abgeleitet werden, dass $jk=-kj$ und $ik=-ki$. +Man sagt, die Einheiten sind {\em antikommutativ}. +\index{antikommutativ}% + +Die Beschreibung von Drehungen mit Quaternionen ist in der +Computergraphik sehr beliebt, weil eine Quaternion mit nur vier +Komponenten $a_0,\dots,a_3$ vollständig beschrieben ist. +Eine Transformationsmatrix des dreidimensionalen Raumes enthält +dagegen neun Koeffizienten, die vergleichsweise komplizierte +Abhängigkeiten erfüllen müssen. +Quaternionen haben auch in weiteren Gebieten interessante Anwendungen, +zum Beispiel in der Quantenmechanik, wo antikommutierende Operatoren +bei der Beschreibung von Fermionen eine zentrale Rolle spielen. + +Aus rein algebraischer Sicht kann man die Frage stellen, ob es eventuell +auch noch grössere Divisionsalgebren gibt, die $\mathbb{H}$ erweitern. +Tatsächlich hat Arthur Cayley 1845 eine achtdimensionale Algebra, +die Oktonionen $\mathbb{O}$, mit vier weiteren Einheiten beschrieben. +\index{Cayley, Arthur}% +Allerdings sind die Oktonionen nur beschränkt praktisch anwendbar. +Grund dafür ist die Tatsache, dass die Multiplikation in $\mathbb{O}$ +nicht mehr assoziativ ist. +Das Produkt von mehr als zwei Faktoren aus $\mathbb{O}$ ist von der +Reihenfolge der Ausführung der Multiplikationen abhängig. + + + + + + |