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author | Andreas Müller <andreas.mueller@ost.ch> | 2021-11-30 17:25:41 +0100 |
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-rw-r--r-- | buch/chapters/060-integral/legendredgl.tex | 369 |
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diff --git a/buch/chapters/060-integral/legendredgl.tex b/buch/chapters/060-integral/legendredgl.tex new file mode 100644 index 0000000..9aeac40 --- /dev/null +++ b/buch/chapters/060-integral/legendredgl.tex @@ -0,0 +1,369 @@ +% +% legendredgl.tex +% +% (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule +% +\subsection{Orthogonale Polynome und Differentialgleichungen} +Legendre hat einen ganz anderen Zugang zu den nach ihm benannten +Polynomen gefunden. +Er hat sie gefunden als die Lösungen einer speziellen Differentialgleichungen. +In diesem Abschnitt sollen diese Funktionen mit der Potenzreihen-Methode +wiedergefunden werden. +Dabei stellt sich heraus, dass diese Polynome auch Eigenfunktionen eines +selbstadjungierten Differentialgoperator sind. +Die Orthogonalität wird dann aus einer Verallgemeinerung der bekannten +Eingeschaft folgen, dass Eigenvektoren einer symmetrischen Matrix zu +verschiedenen Eigenwerten orthogonal sind. + +\subsubsection{Legendre-Differentialgleichung} +Die {\em Legendre-Differentialgleichung} ist die Differentialgleichung +\begin{equation} +(1-x^2) y'' - 2x y' + n(n+1) y = 0 +\label{buch:integral:eqn:legendre-differentialgleichung} +\end{equation} +für eine Funktion $y(x)$ auf dem Intervall $[-1,1]$. + +Sei $y(x)$ eine Lösung der Differentialgleichung +\eqref{buch:integral:eqn:legendre-differentialgleichung}. +Setzt man $y_s(x)=y(-x)$ in die Differentialgleichung ein, erhält +man +\[ +(1-x^2)y_s''(x) - 2x y'_s(x) + n(n+1)y_s(x) += +(1-x^2)y''(-x) +2x y(-x) +n(n+1)y(-x). +\] +Ersetzt man $t=-x$, dann wird daraus +\[ +(1-x^2)y''(t) -2t y(t) + n(n+1) y(t) = 0 +\] +aus der Differentialgleichung +\eqref{buch:integral:eqn:legendre-differentialgleichung}. +Insbesondere ist die gespiegelte Funktion $y_s(x)$ ebenfalls +eine Lösung der Differentialgleichung. + +Ist $y(x)$ eine Lösung der Differentialgleichung ist, dann lässt +sie sich in die Summe einer geraden und einer ungeraden Funktion +\[ +\left. +\begin{aligned} +y_g(x) &= \frac{y(x)+y(-x)}{2}\\ +y_u(x) &= \frac{y(x)-y(-x)}{2} +\end{aligned} +\quad +\right\} +\quad +\Rightarrow +\quad +y(x) = y_g(x) + y_u(x) +\] +zerlegen, die als Linearkombinationen der beiden Lösungen +$y(x)$ und $y_s(x)$ ebenfalls Lösungen der Differentialgleichung +sind. + +\subsubsection{Potenzreihenlösung} +Wir suchen eine Lösung in Form einer Potenzreihe um $x=0$ und +verwenden dazu den Ansatz +\[ +y(x) = a_0+a_1x+a_2x^2+ \dots = \sum_{k=0}^\infty a_kx^k. +\] +\begin{align*} +(1-x^2) \sum_{k=2}^\infty k(k-1)a_kx^{k-2} +-2x\sum_{k=0}^\infty ka_kx^{k-1} ++ +n(n+1)\sum_{k=0}^\infty a_kx^k +&= +0 +\\ +\sum_{k=0}^\infty (k+2)(k+1)a_{k+2}x^k +- +\sum_{k=2}^\infty k(k-1)a_kx^k +- +2\sum_{k=1}^\infty ka_kx^k ++ +n(n+1)\sum_{k=0}^\infty a_kx^k +&= +0 +\end{align*} +Die Koeffizienten zur Potenz $k$ sind daher +\begin{align} +k&=0: +& +0&= +2a_2+n(n+1)a_0 +\notag +\\ +&& +a_2&=-\frac{n(n+1)}{2}a_0 +\notag +\\ +k&=1: +& +0&= +6a_3-2a_1+n(n+1)a_1 +\notag +\\ +&& +a_3&= \frac{2-n(n+1)}{6}a_1 +\notag +\\ +k&>1: +& +0&= +(k+2)(k+1)a_{k+2} -k(k-1)a_k -2ka_k +n(n+1) a_k +\notag +\\ +&& +a_{k+2} +&= +\frac{ k(k+1)-n(n+1) }{(k+2)(k+1)} +a_k +\label{buch:integral:legendre-dgl:eqn:akrek} +\end{align} +Wenn $a_1=0$ und $a_0\ne 1$ ist, dann ist die Funktion $y(x)$ gerade, +alle ungeraden Koeffizienten verschwinden. +Ebenso verschwinden alle geraden Koeffizienten, wenn $a_0=0$ und $a_1\ne 0$. +Für jede Lösung $y(x)$ der Differentialgleichung ist +$y_g(x)$ ein Lösung mit $a_1=0$ und $y_u(x)$ eine Lösung mit $a_0=0$. +Wir können die Diskussion der Lösungen daher auf gerade oder ungerade +Lösungen einschränken. + +Gesucht ist jetzt eine Lösung in Form eines Polynoms. +In diesem Fall müssen die Koeffizienten $a_k$ ab einem +gewissen Index verschwinden. +Dies tritt nach \eqref{buch:integral:legendre-dgl:eqn:akrek} genau +dann auf, wenn der Zähler für ein $k$ verschwindet. +Folglich gibt es genau dann Polynomlösungen der Differentialgleichungen, +wenn $n$ eine natürlich Zahl ist. +Ausserdem ist die Lösung ein Polynom $\bar{P}_n(x)$ vom Grad $n$. +Das Polynom soll wieder so normiert sein, dass $\bar{P}_n(1)=1$ ist. + +Die Lösungen der Differentialgleichungen können jetzt explizit +berechnet werden. +Zunächst ist $\bar{P}_0(x)=1$ und $\bar{P}_1(x)=x$. +Für $n=2$ setzen wir zunächst $a_0=1$ und $a_1=0$ und erhalten +\[ +y(x) += +1 + \frac{0(0+1) - 2(2+1)}{(0+2)(0+1)}a_0 x^2 += +1 +-3x^2 +\qquad\text{oder}\qquad +\bar{P}_3(x) = \frac12(3x^2-1). +\] +Für $n=3$ starten wir von $a_1=1$ und $a_0=0$, was zunächst $a_2=0$ +impliziert. +Für $a_3$ finden wir +\[ +a_3=\frac{1(1+1)-3(3+1)}{(1+2)(1+1)} = -\frac53 +\qquad\Rightarrow\qquad +y(x) = x-\frac53x^3 +\qquad\Rightarrow\qquad +\bar{P}_3(x) = \frac12(5x^3-3x). +\] +Dies stimmt überein mit den früher gefundenen Ausdrücken für +die Legendre-Polynome. + +Die Potenzreihenlösung zeigt zwar, dass es für jedes $n\in\mathbb{N}$ +eine Polynomlösung $\bar{P}_n(x)$ vom Grad $n$ gibt. +Dies kann aber nicht erklären, warum die so gefundenen Polynome +orthogonal sind. + +\subsubsection{Eigenfunktionen} +Die Differentialgleichung +\eqref{buch:integral:eqn:legendre-differentialgleichung} +Kann mit dem Differentialoperator +\[ +D = \frac{d}{dx}(1-x^2)\frac{d}{dx} +\] +als +\[ +Dy + n(n+1)y = 0 +\] +geschrieben werden. +Tatsächlich ist +\[ +Dy += +\frac{d}{dx} (1-x^2) \frac{d}{dy} += +\frac{d}{dx} (1-x^2)y' += +(1-x^2)y'' -2x y'. +\] +Dies bedeutet, dass die Lösungen $\bar{P}_n(x)$ Eigenfunktionen +des Operators $D$ zum Eigenwert $n(n+1)$ sind: +\[ +D\bar{P}_n = -n(n+1) \bar{P}_n. +\] + +\subsubsection{Orthogonalität von $\bar{P}_n$ als Eigenfunktionen} +Ein Operator $A$ auf Funktionen heisst {\em selbstadjungiert}, wenn +für zwei beliebige Funktionen $f$ und $g$ gilt +\[ +\langle Af,g\rangle = \langle f,Ag\rangle +\] +gilt. +Im vorliegenden Zusammenhang möchten wir die Eigenschaft nutzen, +dass Eigenfunktionen eines selbstadjungierten Operatores zu verschiedenen +Eigenwerten orthogonal sind. +Dazu seien $Df = \lambda f$ und $Dg=\mu g$ und wir rechnen +\begin{equation*} +\begin{array}{rcccl} +\langle Df,g\rangle &=& \langle \lambda f,g\rangle &=& \lambda\langle f,g\rangle +\\ +=\langle f,Dg\rangle &=& \langle f,\mu g\rangle &=& \mu\langle f,g\rangle +\\ + & & 0 &=& (\lambda-\mu)\langle f,g\rangle +\end{array} +\end{equation*} +Da $\lambda-\mu\ne 0$ ist, muss $\langle f,g\rangle=0$ sein. + +Der Operator $D$ ist selbstadjungiert, d.~h. +für zwei beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktion $f$ und $g$ +auf dem Intervall $[-1,1]$ gilt +\begin{align*} +\langle Df,g\rangle +&= +\int_{-1}^1 (Df)(x) g(x) \,dx +\\ +&= +\int_{-1}^1 +\biggl(\frac{d}{dx} (1-x^2)\frac{d}{dx}f(x)\biggr) g(x) +\,dx +\\ +&= +\underbrace{ +\biggl[ +\biggl((1-x^2)\frac{d}{dx}f(x)\biggr) g(x) +\biggr]_{-1}^1 +}_{\displaystyle = 0} +- +\int_{-1}^1 +\biggl((1-x^2)\frac{d}{dx}f(x)\biggr) \frac{d}{dx}g(x) +\,dx +\\ +&= +- +\int_{-1}^1 +\biggl(\frac{d}{dx}f(x)\biggr) \biggl((1-x^2)\frac{d}{dx}g(x)\biggr) +\,dx +\\ +&= +- +\underbrace{ +\biggl[ +f(x) \biggl((1-x^2)\frac{d}{dx}g(x)\biggr) +\biggr]_{-1}^1}_{\displaystyle = 0} ++ +\int_{-1}^1 +f(x) \biggl(\frac{d}{dx}(1-x^2)\frac{d}{dx}g(x)\biggr) +\,dx +\\ +&= +\langle f,Dg\rangle. +\end{align*} +Dies beweist, dass $D$ selbstadjungiert ist. +Da $\bar{P}_n$ Eigenwerte des selbstadjungierten Operators $D$ zu +den verschiedenen Eigenwerten $-n(n+1)$ sind, folgt auch, dass +die $\bar{P}_n$ orthogonale Polynome vom Grad $n$ sind, die die +gleiche Standardierdisierungsbedingung wie die Legendre-Polyonome +erfüllen, also ist $\bar{P}_n(x)=P_n(x)$. + +\subsubsection{Legendre-Funktionen zweiter Art} +Siehe Wikipedia-Artikel \url{https://de.wikipedia.org/wiki/Legendre-Polynom} + +Die Potenzreihenmethode liefert natürlich auch Lösungen der +Legendreschen Differentialgleichung, die sich nicht als Polynome +darstellen lassen. +Ist $n$ gerade, dann liefern die Anfangswerte $a_0=0$ und $a_1=1$ +eine ungerade Funktion, die Folge der Koeffizienten bricht +aber nicht ab, vielmehr ist +\begin{align*} +a_{k+2} +&= +\frac{k(k+1)}{(k+1)(k+2)}a_k += +\frac{k}{k+2}a_k. +\end{align*} +Durch wiederholte Anwendung dieser Rekursionsformel findet man +\[ +a_{k} += +\frac{k-2}{k}a_{k-2} += +\frac{k-2}{k}\frac{k-4}{k-2}a_{k-4} += +\frac{k-2}{k}\frac{k-4}{k-2}\frac{k-6}{k-4}a_{k-6} += +\dots += +\frac{1}{k}a_1. +\] +Die Lösung hat daher die Reihenentwicklung +\[ +Q_0(x) = x+\frac13x^3 + \frac15x^5 + \frac17x^7+\dots += +\frac12\log \frac{1+x}{1-x} += +\operatorname{artanh}x. +\] +Die Funktion $Q_0(x)$ heisst {\em Legendre-Funktion zweiter Art}. + +Für $n=1$ wird die Reihenentwicklung $a_0=1$ und $a_1=0$ etwas +interessanter. +Die Rekursionsformel für die Koeffizienten ist +\[ +a_{k+2} += +\frac{k(k+1)-2}{(k+1)(k+2)} a_k. +\qquad\text{oder}\qquad +a_k += +\frac{(k-1)(k-2)-2}{k(k-1)} +a_{k-2} +\] +Man erhält der Reihe nach +\begin{align*} +a_2 &= \frac{-2}{2\cdot 1} a_0 = -1 +\\ +a_3 &= 0 +\\ +a_4 &= \frac{3\cdot 2-2}{4\cdot 3} a_2 = \frac{4}{4\cdot 3}a_2 = \frac13a_2 = -\frac13 +\\ +a_5 &= 0 +\\ +a_6 &= \frac{5\cdot 4-2}{6\cdot 5}a_4 = \frac{18}{6\cdot 5}a_4 = -\frac15 +\\ +a_7 &= 0 +\\ +a_8 &= \frac{7\cdot 6-2}{8\cdot 7}a_6 = \frac{40}{8\cdot 7} = -\frac17 +\\ +a_9 &= 0 +a_{10} &= \frac{9\cdot 8-2}{10\cdot 9}a_8 = \frac{70}{10\cdot 9} = -\frac19, +\end{align*} +woraus sich die Reihenentwicklung +\begin{align*} +y(x) +&= +-x^2 -\frac13x^4 -\frac15x^6 - \frac17x^8 -\frac19x^{10}-\dots +\\ +&= +-x\biggl(x+\frac13x^3 + \frac15x^5 + \frac17x^7 + \frac19x^9+\dots\biggr) += +-x\operatorname{artanh}x. +\end{align*} +Die {\em Legendre-Funktionen zweiter Art} $Q_n(x)$ werden allerdings +so definiert, dass gewisse Rekursionsformeln für die Legendre-Polynome, +die wir hier nicht hergeleitet haben, auch für die $Q_n(x)$ gelten. +In dieser Normierung muss statt des eben berechneten $y(x)$ die Funktion +\[ +Q_1(x) = x \operatorname{artanh}x-1 +\] +verwendet werden. + + + + + + |