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author | Samuel Niederer <43746162+samnied@users.noreply.github.com> | 2022-07-24 12:17:00 +0200 |
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diff --git a/buch/chapters/110-elliptisch/mathpendel.tex b/buch/chapters/110-elliptisch/mathpendel.tex new file mode 100644 index 0000000..e029ffd --- /dev/null +++ b/buch/chapters/110-elliptisch/mathpendel.tex @@ -0,0 +1,325 @@ +% +% mathpendel.tex -- Das mathematische Pendel +% +% (c) 2022 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule +% + +\subsection{Das mathematische Pendel +\label{buch:elliptisch:subsection:mathpendel}} +\begin{figure} +\centering +\includegraphics{chapters/110-elliptisch/images/pendel.pdf} +\caption{Mathematisches Pendel +\label{buch:elliptisch:fig:mathpendel}} +\end{figure} +Das in Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:mathpendel} dargestellte +Mathematische Pendel besteht aus einem Massepunkt der Masse $m$ +im Punkt $P$, +der über eine masselose Stange der Länge $l$ mit dem Drehpunkt $O$ +verbunden ist. +Das Pendel bewegt sich unter dem Einfluss der Schwerebeschleunigung $g$. + +Das Trägheitsmoment des Massepunktes um den Drehpunkt $O$ ist +\( +I=ml^2 +\). +Das Drehmoment der Schwerkraft ist +\(M=gl\sin\vartheta\). +Die Bewegungsgleichung wird daher +\[ +\begin{aligned} +\frac{d}{dt} I\dot{\vartheta} +&= +M += +gl\sin\vartheta +\\ +ml^2\ddot{\vartheta} +&= +gl\sin\vartheta +&&\Rightarrow& +\ddot{\vartheta} +&=\frac{g}{l}\sin\vartheta +\end{aligned} +\] +Dies ist eine nichtlineare Differentialgleichung zweiter Ordnung, die +wir nicht unmittelbar mit den Differentialgleichungen erster Ordnung +der elliptischen Funktionen vergleichen können. + +Die Differentialgleichungen erster Ordnung der elliptischen Funktionen +enthalten das Quadrat der ersten Ableitung. +In unserem Fall entspricht das einer Gleichung, die $\dot{\vartheta}^2$ +enthält. +Der Energieerhaltungssatz kann uns eine solche Gleichung geben. +Die Summe von kinetischer und potentieller Energie muss konstant sein. +Dies führt auf +\begin{equation} +E_{\text{kinetisch}} ++ +E_{\text{potentiell}} += +\frac12I\dot{\vartheta}^2 ++ +mgl(1-\cos\vartheta) += +\frac12ml^2\dot{\vartheta}^2 ++ +mgl(1-\cos\vartheta) += +E. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:energiegleichung} +\end{equation} +Durch Auflösen nach $\dot{\vartheta}$ kann man jetzt die +Differentialgleichung +\[ +\dot{\vartheta}^2 += +- +\frac{2g}{l}(1-\cos\vartheta) ++\frac{2E}{ml^2} +\] +finden. +In erster Näherung, d.h. wenn man die rechte Seite bis zu vierten +Potenzen in eine Taylor-Reihe in $\vartheta$ entwickelt, ist dies +tatsächlich eine Differentialgleichung der Art, wie wir sie für +elliptische Funktionen gefunden haben, wir möchten aber eine exakte +Lösung konstruieren. + +Die maximale Energie für eine Bewegung, bei der sich das Pendel gerade +über den höchsten Punkt hinweg zu bewegen vermag, ist +$E=2lmg$. +Falls $E<2mgl$ ist, erwarten wir Schwingungslösungen, bei denen +der Winkel $\vartheta$ immer im offenen Interval $(-\pi,\pi)$ +bleibt. +Für $E>2mgl$ wird sich das Pendel im Kreis bewegen, für sehr grosse +Energie ist die kinetische Energie dominant, die Verlangsamung im +höchsten Punkt wird immer weniger ausgeprägt sein. + + +% +% Koordinatentransformation auf elliptische Funktionen +% +\subsubsection{Koordinatentransformation auf elliptische Funktionen} +Wir verwenden als neue Variable +\begin{align} +y +&= +\sin\frac{\vartheta}2 +&&\Rightarrow& +\cos^2\frac{\vartheta}2 +&= +1-y^2. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:ydef} +\intertext{Die Ableitung ist} +\dot{y} +&= +\frac12\cos\frac{\vartheta}{2}\cdot \dot{\vartheta} +&&\Rightarrow& +\dot{y}^2 +&= +\frac14\cos^2\frac{\vartheta}2\cdot\dot{\vartheta}^2. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:yabl} +\intertext{% +Man beachte, dass die Koordinate senkrecht zur $x$-Achse in +Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:mathpendel} die Auslenkung +$l\sin\vartheta$ ist, $y$ ist also nicht die Auslenkung senkrecht +zur $x$-Achse! +Aus den Halbwinkelformeln finden wir ausserdem +} +\cos\vartheta +&= +1-2\sin^2 \frac{\vartheta}2 += +1-2y^2 +&&\Rightarrow& +1-\cos\vartheta +&= +2y^2. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:halbwinkel} +\end{align} +Die Grösse $1-\cos\vartheta$ haben wir in der Energiegleichung +\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:energiegleichung} +bereits angetroffen. + +Die Identitäten +\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:halbwinkel} +%und +%\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:ydef} +können wir jetzt in die +Energiegleichung~\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:energiegleichung} +einsetzen und erhalten +\begin{align} +\frac12ml^2\dot{\vartheta}^2 + 2mgly^2 +&= +E +\intertext{und nach Division durch $2ml^2$} +\frac14 \dot{\vartheta}^2 +&= +\frac{E}{2ml^2} - \frac{g}{l}y^2. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:thetadgl} +\end{align} +%Der konstante Term auf der rechten Seite ist grösser oder kleiner als +%$1$ je nachdem, ob das Pendel sich im Kreis bewegt oder nicht. +Durch Multiplizieren mit der rechten Gleichung von +\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:ydef} +erhalten wir auf der linken Seite einen Ausdruck, den wir +mit Hilfe von \eqref{buch:elliptisch:mathpendel:yabl} +als Funktion von $\dot{y}$ ausdrücken können. +Wir erhalten +\begin{align} +\underbrace{\frac14 +\cos^2\frac{\vartheta}2 +\cdot +\dot{\vartheta}^2}_{\displaystyle=\dot{y}^2} +&= +(1-y^2) +\biggl(\frac{E}{2ml^2} -\frac{g}{l}y^2\biggr) +\notag +\\ +\dot{y}^2 +&= +(1-y^2) +\biggl(\frac{E}{2ml^2} -\frac{g}{l}y^2\biggr) +\label{buch:elliptisch:mathpendel:ydgl} +\end{align} +Die letzte Gleichung hat die Form einer Differentialgleichung +für elliptische Funktionen. +Welche Funktion verwendet werden muss, hängt von der relativen +Grösse der Koeffizienten in der zweiten Klammer ab. + +% +% Zeittransformation zur Elimination des konstanten Faktors +% +\subsubsection{Zeittransformation} +Die Gleichung~\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:ydgl} kann auch in +die Form +\begin{equation} +\frac{2ml^2}{E}\dot{y}^2 += +(1-y^2)\biggl(1-\frac{2mgl}{E}y^2\biggr) +\label{buch:elliptisch:mathpendel:ydgl2} +\end{equation} +gebracht werden. +Der konstante Faktor auf der linken Seite kann wie in der Diskussion +des anharmonischen Oszillators durch eine lineare +Transformation der Zeit zum Verschwinden gebracht werden. +Dazu setzt man $z(t) = y(bt)$ und bekommt +\[ +\frac{d}{dt}z(t) += +\frac{d}{dt}y(bt) \frac{d\,bt}{dt} += +b\,\dot{y}(bt). +\] +Die Zeit muss also mit dem Faktor $\sqrt{2ml^2/E}$ skaliert werden. + +% +% Nullstellen der rechten Seite der Differentialgleichung +% +\subsubsection{Nullstellen der rechten Seite} +Die rechte Seite von \eqref{buch:elliptisch:mathpendel:ydgl2} +hat die beiden Nullstellen $1$ und +\begin{equation} +y_0=\sqrt{\frac{E}{2mgl}}. +\label{buch:elliptisch:mathpendel:y0} +\end{equation} +Die Differentialgleichung kann damit als +\begin{equation} +\dot{y}^2 += +(1-y^2)\biggl(1-\frac{1}{y_0^2}y^2\biggr) +\label{buch:elliptisch:mathpendel:y0dgl} +\end{equation} +geschrieben werden. +Da die linke Seite $\ge 0$ sein muss, muss +\( +y\le \min(1,y_0) +\) +sein. +Damit ergeben sich zwei Fälle. +Wenn $y_0<1$ ist, dann schwingt das Pendel. +Der Fall $y_0>1$ entspricht einer Bewegung, bei der das Pendel +um den Punkt $O$ rotiert. +In den folgenden zwei Abschnitten werden die beiden Fälle ausführlicher +diskutiert. + + +\begin{figure} +\centering +\includegraphics[width=\textwidth]{chapters/110-elliptisch/images/jacobiplots.pdf} +\caption{% +Abhängigkeit der elliptischen Funktionen von $u$ für +verschiedene Werte von $k^2=m$. +Für $m=0$ ist $\operatorname{sn}(u,0)=\sin u$, +$\operatorname{cn}(u,0)=\cos u$ und $\operatorname{dn}(u,0)=1$, diese +sind in allen Plots in einer helleren Farbe eingezeichnet. +Für kleine Werte von $m$ weichen die elliptischen Funktionen nur wenig +von den trigonometrischen Funktionen ab, +es ist aber klar erkennbar, dass die anharmonischen Terme in der +Differentialgleichung die Periode mit steigender Amplitude verlängern. +Sehr grosse Werte von $m$ nahe bei $1$ entsprechen der Situation, dass +die Energie des Pendels fast ausreicht, dass es den höchsten Punkt +erreichen kann, was es für $m$ macht. +\label{buch:elliptisch:fig:jacobiplots}} +\end{figure} + +\subsubsection{Der Fall $E>2mgl$} +In diesem Fall ist die zweite Nullstelle $y_0>1$ oder $1/y_0^2 < 1$. +Die Differentialgleichung~\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:y0dgl} +sieht ganz ähnlich aus wie die Differentialgleichung der +Funktion $\operatorname{sn}(u,k)$, tatsächlich wird sie zur +Differentialgleichung von $\operatorname{sn}(u,k)$ wenn man +\[ +k^2 += +1/y_0^2 += +\frac{2mgl}{E} +\] +wählt. +In diesem Fall ist also $y=\operatorname{sn}(u,1/y_0)$ eine Lösung +der Differentialgleichung, wobei $u$ eine lineare Funktion der Zeit +ist. + +Wenn $y_0 \gg 1$ ist, dann ist $k\approx 0$ und die Bewegung ist +entspricht einer gleichförmigen Kreisbewegung. +Je näher $y_0$ an $1$ liegt, desto näher an $1$ ist auch $k$ und +desto grösser wird die Verlangsamung der Bewgung in der Nähe des +Scheitels, das Pendel verweilt sehr lange. +Dies äussert sich in Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:jacobiplots} +durch die lange Verweildauer der Funktion nahe der Extrema. + +% +% Der Fall E < 2mgl +% +\subsubsection{Der Fall $E<2mgl$} +In diesem Fall ist $y_0<1$ und die +Differentialgleichung~\eqref{buch:elliptisch:mathpendel:y0dgl} +sieht zwar immer noch wie eine Differentialgleichung für +$\operatorname{sn}(u,k)$ aus, aber die Lage der Nullstellen +der rechten Seite ist verkehrt. +Indem wir $y=y_0z$ schreiben, erhalten wir +\begin{equation} +\dot{y}^2 += +y_0^2 \dot{z}^2 += +(1-y_0^2z^2)(1-z^2). +\end{equation} +Wieder kann durch eine lineare Transformation der Zeit der Faktor $y_0^2$ +auf der linken Seite zum Verschwinden gebracht werden, es bleibt +die Differentialgleichung der Funktion $\operatorname{sn}(u,k)$ +mit $k=y_0$. +Daraus liest man ab, dass $y_0\operatorname{sn}(u,k)$ die Bewegung +des Pendels im oszillatorischen Fall beschreibt, wobei $u$ wieder +eine lineare Funktion der Zeit ist. + +Wenn $y_0\ll 1$ ist, dann ist auch $k$ sehr klein und die lineare +Näherung ist sehr gut, das Pendel verhält sich wie ein harmonischer +Oszillator mit einer Sinus-Schwingung als Lösung. +Für $y_0=k$ nahe an $1$ dagegen erreicht die Schwingung fast den +die maximale Höhe und wird dort sehr langsam. +Dies äussert sich in Abbildung~ +Dies äussert sich in Abbildung~\ref{buch:elliptisch:fig:jacobiplots} +wiederum durch die lange Verweildauer der Funktion nahe der Extrema. + |