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diff --git a/buch/chapters/060-integral/fehlerfunktion.tex b/buch/chapters/060-integral/fehlerfunktion.tex index 37a007d..397615e 100644 --- a/buch/chapters/060-integral/fehlerfunktion.tex +++ b/buch/chapters/060-integral/fehlerfunktion.tex @@ -576,6 +576,58 @@ Diese Reihenentwicklung ist sehr effizient für kleine Werte von $x$. Für grosse Werte von $x$ entstehen aber sehr grosse Zwischenterme in der Reihe, was zu Auslöschung und damit zu Genauigkeitsverlust führt. +\subsubsection{Hypergeometrische Funktion} +Die Taylor-Reihe~\eqref{buch:integrale:eqn:erfreihe} der Fehlerfunktion +kann auch mit Hilfe hypergeometrischer Funktionen geschrieben werden. +Da nur ungerade Potenzen vorkommen, klammern wir zunächst einen gemeinsamen +Faktor $x$ aus: +\[ +\operatorname{erf}(x) += +\frac{2x}{\sqrt{\pi}} +\sum_{k=0}^\infty +\frac{1}{2k+1} +\frac{(-x^2)^k}{k!}. +\] +Der Bruch $1/(2k+1)$ muss jetzt noch mit Hilfe von Pochhammer-Symbolen +geschrieben werden. +Dazu beachten wir, dass +\begin{align*} +\frac{1}{2k+1} +&= +\frac12 +\frac{1}{\frac32+k-1} +\\ +&= +\frac12 +\frac{ +\frac32(\frac32+1)(\frac32+2)\dots(\frac32+k-2)\phantom{(\frac32+k-1)} +}{ +\frac32(\frac32+1)(\frac32+2)\dots(\frac32+k-2)(\frac32+k-1) +} +\\ +&= +\frac{ +\frac12(\frac12+1)(\frac12+2)(\frac12+3)\dots(\frac12+k-1) +}{ +\frac32(\frac32+1)(\frac32+2)\dots(\frac32+k-2)(\frac32+k-1) +} +\\ +&= +\frac{(\frac12)_k}{(\frac32)_k}. +\end{align*} +Somit ist die Fehlerfunktion als hypergeometrische Funktion +\[ +\operatorname{erf}(x) += +\frac{2x}{\sqrt{\pi}}\sum_{k=0}^\infty +\frac{(\frac12)_k}{(\frac32)_k}\frac{(-x^2)^k}{k!} += +\frac{2x}{\sqrt{\pi}}\, +\mathstrut_1F_1({\textstyle\frac12};{\textstyle\frac32};-x^2). +\] +gegeben. + \subsubsection{Kettenbruchentwicklung} Besonders für grosse $x$ interessiert man sich mehr für $\operatorname{erfc}(x)$ als für $\operatorname{erf}(x)$. diff --git a/buch/chapters/060-integral/orthogonal.tex b/buch/chapters/060-integral/orthogonal.tex index 6300e26..4ffbbde 100644 --- a/buch/chapters/060-integral/orthogonal.tex +++ b/buch/chapters/060-integral/orthogonal.tex @@ -3,7 +3,7 @@ % % (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule % -\section{Orthogonale Polynome +\section{Orthogonalität \label{buch:integral:section:orthogonale-polynome}} Die Fourier-Theorie basiert auf der Idee, Funktionen durch Funktionenreihen mit Summanden zu bilden, die im Sinne eines @@ -14,12 +14,834 @@ Differentialgleichungen. Besonders interessant wird die Situation, wenn die Funktionen Polynome sind. +% +% Skalarprodukt +% \subsection{Skalarprodukt} -\subsection{Definition} +Der reelle Vektorraum $\mathbb{R}^n$ trägt das Skalarprodukt +\[ +\langle\;,\;\rangle +\colon +\mathbb{R}^n \times \mathbb{R}^n \to \mathbb{R} +: +(x,y)\mapsto \langle x, y\rangle = \sum_{k=1}^n x_iy_k, +\] +welches viele interessante Anwendungen ermöglicht. +Eine orthonormierte Basis macht es zum Beispiel besonders leicht, +eine Zerlegung eines Vektors in dieser Basis zu finden. +In diesem Abschnitt soll zunächst an die Eigenschaften erinnert +werden, die zu einem nützlichen + +\subsubsection{Eigenschaften eines Skalarproduktes} +Das Skalarprodukt erlaubt auch, die Länge eines Vektors $v$ +als $|v| = \sqrt{\langle v,v\rangle}$ zu definieren. +Dies funktioniert natürlich nur, wenn die Wurzel auch immer +definiert ist, d.~h.~das Skalarprodukt eines Vektors mit sich +selbst darf nicht negativ sein. +Dazu dient die folgende Definition. + +\begin{definition} +Sei $V$ ein reeller Vektorraum. +Eine bilineare Abbildung +\[ +\langle\;,\;\rangle +\colon +V\times V +\to +\mathbb{R} +: +(u,v) \mapsto \langle u,v\rangle. +\] +heisst {\em positiv definit}, wenn für alle Vektoren $v \in V$ mit +$v\ne 0 \Rightarrow \langle v,v\rangle > 0$ +Die {\em Norm} eines Vektors $v$ ist +$|v|=\sqrt{\langle v,v\rangle}$. +\end{definition} + +Damit man mit dem Skalarprodukt sinnvoll rechnen kann, ist ausserdem +erforderlich, dass es eine einfache Beziehung zwischen +$\langle x,y\rangle$ und $\langle y,x\rangle$ gibt. + +\begin{definition} +Ein {\em Skalarprodukt} auf einem reellen Vektorraum $V$ ist eine +positiv definite, symmetrische bilineare Abbildung +\[ +\langle\;,\;\rangle +\colon +V\times V +\to +\mathbb{R} +: +(u,v) \mapsto \langle u,v\rangle. +\] +\end{definition} + +Das Skalarprodukt $\langle u,v\rangle=u^tv$ auf dem Vektorraum +$\mathbb{R}^n$ erfüllt die Definition ganz offensichtlich, +sie führt auf die Komponentendarstellung +\[ +\langle u,v\rangle = u^tv = \sum_{k=1}^n u_iv_i. +\] +Weitere Skalarprodukte ergeben ergeben sich mit jeder symmetrischen, +positiv definiten Matrix $G$ und der Definition +$\langle u,v\rangle_G=u^tGv$. +Ein einfacher Spezialfall tritt auf, wenn $G$ eine Diagonalmatrix +$\operatorname{diag}(w_1,\dots,w_n)$ +mit positiven Einträgen $w_i>0$ auf der Diagonalen ist. +In diesem Fall schreiben wir +\[ +\langle u,v\rangle_w += +u^t\operatorname{diag}(w_1,\dots,w_n)v += +\sum_{k=1}^n u_iv_i\,w_i +\] +und nennen $\langle \;,\;\rangle_w$ das {\em gewichtete Skalarprodukt} +mit {\em Gewichten $w_i$}. + +\subsubsection{Skalarprodukte auf Funktionenräumen} +Das Integral ermöglicht jetzt, ein Skalarprodukt auf dem reellen +Vektorraum der stetigen Funktionen auf einem Intervall zu definieren. + +\begin{definition} +Sei $V$ der reelle Vektorraum $C([a,b])$ der reellwertigen, stetigen +Funktion auf dem Intervall $[a,b]$. +Dann ist +\[ +\langle\;,\;\rangle +\colon +C([a,b]) \times C([a,b]) \to \mathbb{R} +: +(f,g) \mapsto \langle f,g\rangle = \int_a^b f(x)g(x)\,dx. +\] +ein Skalarprodukt. +\end{definition} + +Die Definition ist offensichtlich symmetrisch in $f$ und $g$ und +aus den Eigenschaften des Integrals ist klar, dass das Produkt +bilinear ist: +\begin{align*} +\langle \lambda_1 f_1+\lambda_2f_2,g\rangle +&= +\int_a^b (\lambda_1f_(x) +\lambda_2f_2(x))g(x)\,dx += +\lambda_1\int_a^b f_1(x) g(x)\,dx ++ +\lambda_2\int_a^b f_2(x) g(x)\,dx +\\ +&= +\lambda_1\langle f_1,g\rangle ++ +\lambda_2\langle f_2,g\rangle. +\end{align*} +Ausserdem ist es positiv definit, denn wenn $f(x_0) \ne 0$ ist, +dann gibt es wegen der Stetigkeit von $f$ eine Umgebung +$U=[x_0-\varepsilon,x_0+\varepsilon]$, derart, dass $|f(x)| > \frac12|f(x_0)|$ +ist für alle $x\in U$. +Somit ist das Integral +\[ +\langle f,f\rangle += +\int_a^b |f(x)|^2\,dx +\ge +\int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} |f(x)|^2\,dx +\ge +\int_{x_0-\varepsilon}^{x_0+\varepsilon} \frac14|f(x_0)|^2\,dx += +\frac{1}{4}|f(x_0)|^2\cdot 2\varepsilon += +\frac{|f(x_0)|\varepsilon}{2} +>0, +\] +was beweist, dass $\langle\;,\;\rangle$ positiv definit und damit +ein Skalarprodukt ist. + +Die Definition kann noch etwas verallgemeinert werden, indem +die Funktionswerte nicht überall auf dem Definitionsbereich +gleich gewichtet werden. + +\begin{definition} +Sei $w\colon [a,b]\to \mathbb{R}^+$ eine positive, stetige Funktion, +dann ist +\[ +\langle\;,\;\rangle_w +\colon +C([a,b]) \times C([a,b]) \to \mathbb{R} +: +(f,g) \mapsto \langle f,g\rangle_w = \int_a^b f(x)g(x)\,w(x)\,dx. +\] +das {\em gewichtete Skalarprodukt} mit {\em Gewichtsfunktion $w(x)$}. +\end{definition} + +\subsubsection{Gram-Schmidt-Orthonormalisierung} +In einem reellen Vektorraum $V$ mit Skalarprodukt $\langle\;\,,\;\rangle$ +kann aus einer beleibigen Basis $b_1,\dots,b_n$ mit Hilfe des +Gram-Schmidtschen Orthogonalisierungsverfahrens immer eine +orthonormierte Basis $\tilde{b}_1,\dots,\tilde{b}_n$ Basis +gewonnen werden. +Es stellt sicher, dass für alle $k\le n$ gilt +\[ +\langle b_1,\dots,b_k\rangle += +\langle \tilde{b}_1,\dots,\tilde{b}_k\rangle. +\] +Zur Vereinfachung der Formeln schreiben wir $v^0=v/|v|$ für einen zu +$v$ parallelen Einheitsvektor. +Die Vektoren $\tilde{b}_i$ können mit Hilfe der Formeln +\begin{align*} +\tilde{b}_1 +&= +(b_1)^0 +\\ +\tilde{b}_2 +&= +\bigl( +b_2 +- +\langle \tilde{b}_1,b_2\rangle \tilde{b}_1 +\bigr)^0 +\\ +\tilde{b}_3 +&= +\bigl( +b_3 +- +\langle \tilde{b}_1,b_3\rangle \tilde{b}_1 +- +\langle \tilde{b}_2,b_3\rangle \tilde{b}_2 +\bigr)^0 +\\ +&\;\vdots +\\ +\tilde{b}_n +&= +\bigl( +b_n +- +\langle \tilde{b}_1,b_n\rangle \tilde{b}_1 +- +\langle \tilde{b}_2,b_n\rangle \tilde{b}_2 +-\dots +- +\langle \tilde{b}_{n-1},b_n\rangle \tilde{b}_{n-1} +\bigr)^0 +\end{align*} +iterativ berechnet werden. +Dieses Verfahren lässt sich auch auf Funktionenräume anwenden. + +Die Normierung ist nicht unbedingt nötig und manchmal unangenehm, +da die Norm unschöne Quadratwurzeln einführt. +Falls es genügt, eine orthogonale Basis zu finden, kann darauf +verzichtet werden, bei der Orthogonalisierung muss aber berücksichtigt +werden, dass die Vektoren $\tilde{b}_i$ jetzt nicht mehr Einheitslänge +haben. +Die Formeln +\begin{align*} +\tilde{b}_0 +&= +b_0 +\\ +\tilde{b}_1 +&= +b_1 +- +\frac{\langle b_1,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 +\\ +\tilde{b}_2 +&= +b_2 +- +\frac{\langle b_2,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 +- +\frac{\langle b_2,\tilde{b}_1\rangle}{\langle \tilde{b}_1,\tilde{b}_1\rangle}\tilde{b}_1 +\\ +&\;\vdots +\\ +\tilde{b}_n +&= +b_n +- +\frac{\langle b_n,\tilde{b}_0\rangle}{\langle \tilde{b}_0,\tilde{b}_0\rangle}\tilde{b}_0 +- +\frac{\langle b_n,\tilde{b}_1\rangle}{\langle \tilde{b}_1,\tilde{b}_1\rangle}\tilde{b}_1 +- +\dots +- +\frac{\langle b_n,\tilde{b}_{n-1}\rangle}{\langle \tilde{b}_{n-1},\tilde{b}_{n-1}\rangle}\tilde{b}_{n-1}. +\end{align*} +berücksichtigen dies. + + +% +% Orthogonale Polynome +% +\subsection{Orthogonale Polynome +\label{buch:integral:subsection:orthogonale-polynome}} +Die Polynome $1,x,x^2,\dots,x^n$ bilden eine Basis des Vektorraums +der Polynome vom Grad $\le n$. +Bezüglich des Skalarproduktes +\[ +\langle p,q\rangle += +\int_{-1}^1 p(x)q(x)\,dx +\] +sind sie jedoch nicht orthogonal, denn es ist +\[ +\langle x^i,x^j\rangle += +\int_{-1}^1 x^{i+j}\,dx += +\biggl[\frac{x^{i+j+1}}{i+j+1}\biggr]_{-1}^1 += +\begin{cases} +\frac{2}{i+j+1}&\qquad\text{$i+j$ gerade}\\ + 0&\qquad\text{$i+j$ ungerade}. +\end{cases} +\] +Wir können daher das Gram-Schmidtsche Orthonormalisierungsverfahren +anwenden, um eine orthogonale Basis von Polynomen zu finden, was +wir im Folgenden tun wollen. + +% XXX Orthogonalisierungsproblem so formulieren, dass klar wird, +% XXX dass man ein "Normierungskriterium braucht. + +Da wir auf die Normierung verzichten, brauchen wir ein anderes +Kriterium, welches die Polynome eindeutig festlegen kann. +Wir bezeichnen das Polynom vom Grad $n$, das bei diesem Prozess +entsteht, mit $P_n(x)$ und legen willkürlich aber traditionskonform +fest, dass $P_n(1)=1$ sein soll. + +Das Skalarprodukt berechnet ein Integral eines Produktes von zwei +Polynomen über das symmetrische Interval $[-1,1]$. +Ist die eine gerade und die andere ungerade, dann ist das +Produkt eine ungerade Funktion und das Skalarprodukt verschwindet. +Sind beide Funktionen gerade oder ungerade, dann ist das Produkt +gerade und das Skalarprodukt ist im Allgmeinen von $0$ verschieden. +Dies zeigt, dass es tatsächlich etwas zu Orthogonalisieren gibt. + +Die ersten beiden Funktionen sind das konstante Polynom $1$ und +das Polynome $x$. +Nach obiger Beobachtung ist das Skalarprodukt $\langle 1,x\rangle=0$, +also ist $P_1(x)=x$. + +\begin{lemma} +Die Polynome $P_{2n}(x)$ sind gerade, die Polynome $P_{2n+1}(x)$ sind +ungerade Funktionen von $x$. +\end{lemma} + +\begin{proof}[Beweis] +Wir verwenden vollständige Induktion nach $n$. +Wir wissen bereits, dass $P_0(x)=1$ und $P_1(x)=x$ die verlangten +Symmetrieeigenschaften haben. +Im Sinne der Induktionsannahme nehmen wir daher an, dass die +Symmetrieeigenschaften für $P_k(x)$, $k<n$, bereits bewiesen sind. +$P_n(x)$ entsteht jetzt durch Orthogonalisierung nach der Formel +\[ +P_n(x) += +x^n +- +\langle P_{n-1},x^n\rangle P_{n-1}(x) +- +\langle P_{n-2},x^n\rangle P_{n-2}(x) +-\dots- +\langle P_1,x^n\rangle P_1(x) +- +\langle P_0,x^n\rangle P_0(x). +\] +Die Skalarprodukte +$\langle P_{n-1},x^n\rangle$, +$\langle P_{n-3},x^n\rangle$, $\dots$ verschwinden alle, so dass +$P_n(x)$ eine Linearkombination der Funktionen $x^n$, $P_{n-2}(x)$, +$P_{n-4}(x)$ ist, die die gleiche Parität wie $x^n$ haben. +Also hat auch $P_n(x)$ die gleiche Parität, was das Lemma beweist. +\end{proof} + +Die Ortogonalisierung von $x^2$ liefert daher +\[ +p(x) = x^2 +- +\frac{\langle x^2,P_0\rangle}{\langle P_0,P_0\rangle} P_0(x) += +x^2 - \frac{\int_{-1}^1x^2\,dx}{\int_{-1}^11\,dx} += +x^2 - \frac{\frac{2}{3}}{2}=x^2-\frac13 +\] +Dieses Polynom erfüllt die Standardisierungsbedingung noch +nicht den $p(1)=\frac23$. +Daraus leiten wir ab, dass +\[ +P_2(x) = \frac12(3x^2-1) +\] +ist. + +Für $P_3(x)$ brauchen wir nur die Skalaprodukte +\[ +\left. +\begin{aligned} +\langle x^3,P_1\rangle +&= +\int_{-1}^1 x^3\cdot x\,dx += +\biggl[\frac15x^5\biggr]_{-1}^1 += +\frac25 +\qquad +\\ +\langle P_1,P_1\rangle +&= +\int_{-1}^1 x^2\,dx += +\frac23 +\end{aligned} +\right\} +\qquad +\Rightarrow +\qquad +p(x) = x^3 - \frac{\frac25}{\frac23}x=x^3-\frac{3}{5}x +\] +Die richtige Standardisierung ergibt sich, +indem man durch $p(1)=\frac25$ dividiert, also +\[ +P_2(x) = \frac12(5x^3-3x). +\] + +Die Berechnung weiterer Polynome verlangt, dass Skalarprodukte +$\langle x^n,P_k\rangle$ berechnet werden müssen, was wegen +der zunehmend komplizierten Form von $P_k$ etwas mühsam ist. +Wir berechnen den Fall $P_4$. +Dazu muss das Polynom $x^4$ um eine Linearkombination von +$P_2$ und $P_0(x)=1$ korrigiert werden. +Die Skalarprodukte sind +\begin{align*} +\langle x^4, P_0\rangle +&= +\int_{-1}^1 x^4\,dx = \frac25 +\\ +\langle P_0,P_0\rangle +&= +\int_{-1}^1 \,dx = 2 +\\ +\langle x^4,P_2\rangle +&= +\int_{-1}^1 \frac32x^6-\frac12 x^4\,dx += +\biggl[\frac{3}{14}x^7-\frac{1}{10}x^5\biggr]_{-1}^1 += +\frac6{14}-\frac15 += +\frac8{35} +\\ +\langle P_2,P_2\rangle +&= +\int_{-1}^1 \frac14(3x^2-1)^2\,dx += +\int_{-1}^1 \frac14(9x^4-6x^2+1)\,dx += +\frac14(\frac{18}{5}-4+2) +=\frac25. +\end{align*} +Daraus folgt für $p(x)$ +\begin{align*} +p(x) +&= +x^4 +- +\frac{\langle x^4,P_2\rangle}{\langle P_2,P_2\rangle}P_2(x) +- +\frac{\langle x^4,P_0\rangle}{\langle P_0,P_0\rangle}P_0(x) +\\ +&= +x^4 +-\frac47 P_2(x) - \frac15 P_0(x) += +x^4 - \frac{6}{7}x^2 + \frac{3}{35} +\end{align*} +mit $p(1)=\frac{8}{35}$, so dass man +\[ +P_4(x) = +\frac18(35x^4-30x^2+3) +\] +setzen muss. + +\begin{table} +\centering +\renewcommand{\arraystretch}{1.5} +\begin{tabular}{|>{$}c<{$}|>{$}l<{$}|} +\hline +n&P_n(x)\\ +\hline + 0&1 +\\ + 1&x +\\ + 2&\frac12(3x^2-1) +\\ + 3&\frac12(5x^3-3x) +\\ + 4&\frac18(35x^4-30x^2+3) +\\ + 5&\frac18(63x^5-70x^3+15x) +\\ + 6&\frac1{16}(231x^6-315x^4+105x^2-5) +\\ + 7&\frac1{16}(429x^7-693x^5+315x^3-35x) +\\ + 8&\frac1{128}(6435x^8-12012x^6+6930x^4-1260x^2+35) +\\ + 9&\frac1{128}(12155x^9-25740x^7+18018x^5-4620x^3+315x) +\\ +10&\frac1{256}(46189x^{10}-109395x^8+90090x^6-30030x^4+3465x^2-63) +\\ +\hline +\end{tabular} +\caption{Die Legendre-Polynome $P_n(x)$ für $n=0,1,\dots,10$ sind +orthogonale Polynome vom Grad $n$, die den Wert $P_n(1)=1$ haben. +\label{buch:integral:table:legendre-polynome}} +\end{table} + +Die so konstruierten Polynome heissen die {\em Legendre-Polynome}. +Durch weitere Durchführung des Verfahrens liefert die Polynome in +Tabelle~\ref{buch:integral:table:legendre-polynome}. + + +% +% Differentialgleichungen +% \subsection{Orthogonale Polynome und Differentialgleichungen} \subsubsection{Legendre-Differentialgleichung} \subsubsection{Legendre-Polyome} \subsubsection{Legendre-Funktionen zweiter Art} Siehe Wikipedia-Artikel \url{https://de.wikipedia.org/wiki/Legendre-Polynom} + +% +% Anwendung: Gauss-Quadratur +% \subsection{Anwendung: Gauss-Quadratur} +Orthogonale Polynome haben eine etwas unerwartet Anwendung in einem +von Gauss erdachten numerischen Integrationsverfahren. +Es basiert auf der Beobachtung, dass viele Funktionen sich sehr +gut durch Polynome approximieren lassen. +Wenn man also sicherstellt, dass ein Verfahren für Polynome +sehr gut funktioniert, darf man auch davon ausgehen, dass es für +andere Funktionen nicht allzu schlecht sein wird. + +\subsubsection{Interpolationspolynome} +Zu einer stetigen Funktion $f(x)$ auf dem Intervall $[-1,1]$ +ist ein Polynome vom Grad $n$ gesucht, welches in den Punkten +$x_0<x_1<\dots<x_n$ die Funktionswerte $f(x_i)$ annimmt. +Ein solches Polynom $p(x)$ hat $n+1$ Koeffizienten, die aus dem +linearen Gleichungssystem der $n+1$ Gleichungen $p(x_i)=f(x_i)$ +ermittelt werden können. + +Das Interpolationspolynom $p(x)$ lässt sich abera uch direkt +angeben. +Dazu konstruiert man zuerst die Polynome +\[ +l_i(x) += +\frac{ +(x-x_0)(x-x_1)\cdots\widehat{(x-x_i)}\cdots (x-x_n) +}{ +(x_i-x_0)(x_i-x_1)\cdots\widehat{(x_i-x_i)}\cdots (x_i-x_n) +} +\] +vom Grad $n$, wobei der Hut bedeutet, dass diese Faktoren +im Produkt wegzulassen sind. +Die Polynome $l_i(x)$ haben die Eigenschaft +\[ +l_i(x_j) = \delta_{ij} += +\begin{cases} +1&\qquad i=j\\ +0&\qquad\text{sonst}. +\end{cases} +\] +Die Linearkombination +\[ +p(x) = \sum_{i=0}^n f(x_i)l_i(x) +\] +ist dann ein Polynom vom Grad $n$, welches am den Stellen $x_j$ +die Werte +\[ +p(x_j) += +\sum_{i=0}^n f(x_i)l_i(x_j) += +\sum_{i=0}^n f(x_i)\delta_{ij} += +f(x_j) +\] +hat, das Polynome $p(x)$ ist also das gesuchte Interpolationspolynom. + +\subsubsection{Fehler des Interpolationspolynoms} +TODO + +\subsubsection{Integrationsverfahren auf der Basis von Interpolation} +Das Integral einer stetigen Funktion $f(x)$ auf dem Intervall $[-1,1]$ +kann mit Hilfe des Interpolationspolynoms approximiert werden. +Wenn $|f(x)-p(x)|<\varepsilon$ ist im Intervall $[-1,1]$, dann gilt +für die Integrale +\[ +\biggl|\int_{-1}^1 f(x)\,dx -\int_{-1}^1p(x)\,dx\biggr| +\le +\int_{-1}^1 |f(x)-p(x)|\,dx +\le +2\varepsilon. +\] +Ein Interpolationspolynom mit kleinem Fehler liefert also auch +eine gute Approximation für das Integral. + +Da das Interpolationspolynome durch die Funktionswerte $f(x_i)$ +bestimmt ist, muss auch das Integral allein aus diesen Funktionswerten +berechnet werden können. +Tatsächlich ist +\[ +\int_{-1}^1 p(x)\,dx += +\int_{-1}^1 \sum_{i=0}^n f(x_i)l_i(x)\,dx += +\sum_{i=0}^n f(x_i) +\underbrace{\int_{-1}^1 +l_i(x)\,dx}_{\displaystyle = A_i} +\] +Das Integral von $f(x)$ wird also durch eine mit den Zahlen $A_i$ +gewichtete Summe +\[ +\int_{-1}^1 f(x)\,dx +\approx +\sum_{i=1}^n f(x_i)A_i +\] +approximiert. + +\subsubsection{Integrationsverfahren, die für Polynome exakt sind} +Ein Polynom vom Grad $2n$ hat $2n+1$ Koeffizienten. +Um das Polynom durch ein Interpolationspolynom exakt wiederzugeben, +braucht man $2n+1$ Stützstellen. +Andererseits gilt +\[ +\int_{-1}^1 a_{2n}x^{2n} + a_{2n-1}x^{2n-1} + \dots + a_2x^2 + a_1x a_0\,dx += +\int_{-1}^1 a_{2n}x^{2n} + a_{2n-2}x^{2n-2}+\dots +a_2x^2 +a_0\,dx, +\] +das Integral ist also bereits durch die $n+1$ Koeffizienten mit geradem +Index bestimmt. +Es sollte daher möglich sein, aus $n+1$ Funktionswerten eines beliebigen +Polynoms vom Grad höchstens $2n$ an geeignet gewählten Stützstellen das +Integral exakt zu bestimmen. + +\begin{beispiel} +Wir versuchen dies für quadratische Polynome durchzuführen, also +für $n=1$. +Gesucht sind also zwei Werte $x_i$, $i=0,1$ und Gewichte $A_i$, $i=0,1$ +derart, dass für jedes quadratische Polynome $p(x)=a_2x^2+a_1x+a_0$ +das Integral durch +\[ +\int_{-1}^1 p(x)\,dx += +A_0 p(x_0) + A_1 p(x_1) +\] +gebeben ist. +Indem wir für $p(x)$ die Polynome $1$, $x$, $x^2$ und $x^3$ einsetzen, +erhalten wir vier Gleichungen +\[ +\begin{aligned} +p(x)&=\rlap{$1$}\phantom{x^2}\colon& 2 &= A_0\phantom{x_0}+ A_1 \\ +p(x)&=x^{\phantom{2}}\colon& 0 &= A_0x_0 + A_1x_1 \\ +p(x)&=x^2\colon& \frac23 &= A_0x_0^2 + A_1x_1^2\\ +p(x)&=x^3\colon& 0 &= A_0x_0^3 + A_1x_1^3. +\end{aligned} +\] +Dividiert man die zweite und vierte Gleichung in der Form +\[ +\left. +\begin{aligned} +A_0x_0 &= -A_1x_1\\ +A_0x_0^2 &= -A_1x_1^2 +\end{aligned} +\quad +\right\} +\quad +\Rightarrow +\quad +x_0^2=x_1^2 +\quad +\Rightarrow +\quad +x_1=-x_0. +\] +Indem wir dies in die zweite Gleichung einsetzen, finden wir +\[ +0 = A_0x_0 + A_1x_1 = A_0x_1 -A_1x_0 = (A_0-A_1)x_0 +\quad\Rightarrow\quad +A_0=A_1. +\] +Aus der ersten Gleichung folgt jetzt +\[ +2= A_0+A_1 = 2A_0 \quad\Rightarrow\quad A_0 = 1. +\] +Damit bleiben nur noch die Werte von $x_i$ zu bestimmen, was +mit Hilfe der zweiten Gleichung geschehen kann: +\[ +\frac23 = A_0x_0^2 + A_1x_1^2 = 2x_0^2 +\quad\Rightarrow\quad +x_0 = \frac{1}{\sqrt{3}}, x_1 = -\frac{1}{\sqrt{3}} +\] +Damit ist das Problem gelöst: das Integral eines Polynoms vom Grad 3 +im Interval $[-1,1]$ ist exakt gegeben durch +\[ +\int_{-1}^1 p(x)\,dx += +p\biggl(-\frac{1}{\sqrt{3}}\biggr) ++ +p\biggl(\frac{1}{\sqrt{3}}\biggr). +\] +Das Integral kann also durch nur zwei Auswertungen des Polynoms +exakt bestimmt werden. + +Im Laufe der Lösung des Gleichungssystems wurden die Gewichte $A_i$ +mit bestimmt. +Es ist aber auch möglich, die Gewichte zu bestimmen, wenn man die +Stützstellen kennt. +Nach \eqref{XXX} sind sie gegeben als Integrale der Polynome $l_i(x)$, +die im vorliegenden Fall linear sind: +\begin{align*} +l_0(x) +&= +\frac{x-x_1}{x_0-x_1} += +\frac{x-\frac1{\sqrt{3}}}{-\frac{2}{\sqrt{3}}} += +\frac12(1-\sqrt{3}x) +\\ +l_1(x) +&= +\frac{x-x_0}{x_1-x_0} += +\frac{x+\frac1{\sqrt{3}}}{\frac{2}{\sqrt{3}}} += +\frac12(1+\sqrt{3}x) +\end{align*} +Diese haben die Integrale +\[ +\int_{-1}^1\frac12(1\pm\sqrt{3}x)\,dx += +\int_{-1}^1 \frac12\,dx += +1, +\] +da das Polynom $x$ verschwindendes Integral hat. +Dies stimmt mit $A_0=A_1=1$ überein. +\label{buch:integral:beispiel:gaussquadraturn1} +\end{beispiel} + +Das eben vorgestellt Verfahren kann natürlich auf beliebiges $n$ +verallgemeinert werden. +Allerdings ist die Rechnung zur Bestimmung der Stützstellen und +Gewichte sehr mühsam. + +\subsubsection{Stützstellen und Orthogonalpolynome} +Sei $R_n=\{p(X)\in\mathbb{R}[X] \mid \deg p\le n\}$ der Vektorraum +der Polynome vom Grad $n$. + +\begin{satz} +\label{buch:integral:satz:gaussquadratur} +Sei $p$ ein Polynom vom Grad $n$, welches auf allen Polynomen in $R_{n-1}$ +orthogonal sind. +Seien ausserdem $x_0<x_1<\dots<x_n$ Stützstellen im Intervall $[-1,1]$ +und $A_i\in\mathbb{R}$ Gewichte derart dass +\[ +\int_{-1}^1 f(x)\,dx = +\sum_{i=0}^n A_if(x_i) +\] +für jedes Polynom $f$ vom Grad höchstens $2n-1$, dann sind die Zahlen +$x_i$ die Nullstellen des Polynoms $p$. +\end{satz} + +\begin{proof}[Beweis] +Sei $f(x)$ ein beliebiges Polynom vom Grad $2n-1$. +Nach dem Polynomdivisionsalgorithmus gibt es +Polynome $q,r\in R_{n-1}$ derart, dass $f=qp+r$. +Dann ist das Integral von $f$ gegeben durch +\[ +\int_{-1}^1 f(x)\,dx += +\int_{-1}^1q(x) p(x)\,dx + \int_{-1}^1 r(x)\,dx += +\langle q,p\rangle + \int_{-1}^1 r(x)\,dx. +\] +Da $p\perp R_{n-1}$ folgt insbesondere, dass $\langle q,p\rangle=0$. + +Da die Integrale auch aus den Werten in den Stützstellen berechnet +werden können, muss auch +\[ +0 += +\int_{-1}^1 q(x)p(x)\,dx += +\sum_{i=0}^n q(x_i)p(x_i) +\] +für jedes beliebige Polynom $q\in R_{n-1}$ gelten. +Da man für $q$ die Interpolationspolynome $l_j(x)$ verwenden +kann, den Grad $n-1$ haben, folgt +\[ +0 += +\sum_{i=0}^n +l_j(x_i)p(x_i) += +\sum_{i=0}^n \delta_{ij}p(x_i), +\] +die Stützstellen $x_i$ müssen also die Nullstellen des Polynoms +$p(x)$ sein. +\end{proof} + +Der Satz~\ref{buch:integral:satz:gaussquadratur} begründet das +{\em Gausssche Quadraturverfahren}. +Die in Abschnitt~\ref{buch:integral:subsection:orthogonale-polynome} +bestimmten Legendre-Polynome $P_n$ haben die im Satz +verlangte Eigenschaft, +dass sie auf allen Polynomen geringeren Grades orthogonal sind. +Wählt man die $n$ Nullstellen von $P_n$ als Stützstellen, erhält man +automatisch ein Integrationsverfahren, welches für Polynome vom Grad +$2n-1$ exakt ist. + +\begin{beispiel} +Das Legendre-Polynom $P_2(x) = \frac12(3x^2-1)$ hat die +Nullstellen $x=\pm1/\sqrt{3}$, dies sind genau die im Beispiel +auf Seite~\pageref{buch:integral:beispiel:gaussquadraturn1} befundenen +Sützstellen. +\end{beispiel} + +\subsubsection{Fehler der Gauss-Quadratur} +Das Gausssche Quadraturverfahren mit $n$ Stützstellen berechnet +Integrale von Polynomen bis zum Grad $2n-1$ exakt. +Für eine beliebige Funktion kann man die folgende Fehlerabschätzung +angeben \cite[theorem 7.3.4, p.~497]{numal}. + +\begin{satz} +Seien $x_i$ die Stützstellen und $A_i$ die Gewichte einer +Gaussschen Quadraturformel mit $n+1$ Stützstellen und sei $f$ +eine auf dem Interval $[-1,1]$ $2n+2$-mal stetig differenzierbare +Funktion, dann ist der $E$ Fehler des Integrals +\[ +\int_{-1}^1 f(x)\,dx = \sum_{i=0}^n A_i f(x_i) + E +\] +gegeben durch +\begin{equation} +E = \frac{f^{(2n+2)}}{(2n+2)!}\int_{-1}^1 l(x)^2\,dx, +\label{buch:integral:gaussquadratur:eqn:fehlerformel} +\end{equation} +wobei $l(x)=(x-x_0)(x-x_1)\dots(x-x_n)$ ist. +\end{satz} + +Dank dem Faktor $(2n+2)!$ im Nenner von +\eqref{buch:integral:gaussquadratur:eqn:fehlerformel} +geht der Fehler für grosses $n$ sehr schnell gegen $0$. +Man kann auch zeigen, dass die mit Gauss-Quadratur mit $n+1$ +Stützstellen berechneten Näherungswerte eines Integrals einer +stetigen Funktion $f(x)$ für $n\to\infty$ immer gegen den wahren +Wert des Integrals konvergieren. + +\subsubsection{Skalarprodukte mit Gewichtsfunktion} |