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-rw-r--r--buch/chapters/080-funktionentheorie/holomorph.tex384
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index 0000000..c87b083
--- /dev/null
+++ b/buch/chapters/080-funktionentheorie/holomorph.tex
@@ -0,0 +1,384 @@
+%
+% holomorph.tex
+%
+% (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule
+%
+\section{Holomorphe Funktionen
+\label{buch:funktionentheorie:section:holomorph}}
+\rhead{Holomorphe Funktionen}
+
+Wir betrachten in diesem Kapitel komplexwertige Funktionen,
+\index{komplexwertige Funktion}%
+die ein einem Teilgebiet der komplexen Ebene definiert sind.
+Ein {\em Gebiet} ist eine offene Teilmenge $\Omega\subset \mathbb C$.
+\index{Gebiet}%
+{\em Offen} heisst, dass mit jedem Punkt $z_0\in\Omega$ eine Umgebung
+\index{offen}%
+\index{Umgebung}%
+\[
+U=\{z\in\mathbb Z\,|\,|z-z_0|<\varepsilon\}
+\]
+ebenfalls in $\Omega$ enthalten ist, also $U\subset \Omega$ für genügen
+kleines $\varepsilon$.
+Sei also $f(z)$ eine in $\Omega\subset\mathbb C$ definierte
+Funktion $f\colon\Omega\to\mathbb C$.
+
+Eine komplexwertige Funktion $f(z)$ kann betrachtet werden als zwei
+reellwertige Funktionen von zwei Variablen $x$ und $y$:
+\[
+f(z)=\operatorname{Re}f(x+iy) + i \operatorname{Im}f(x+iy).
+\]
+Schreibt man
+$\operatorname{Re}f(x+iy)=u(x,y)$
+und
+$\operatorname{In}f(x+iy)=v(x,y)$,
+dann ist die komplexe Funktion vollständig durch reelle Funktionen
+beschrieben.
+Und natürlich wissen wir auch, was unter den Ableitungen der Funktionen
+$u(x,y)$ und $v(x,y)$ zu verstehen ist.
+Der Funktion $f(z)$ entspricht eine Abbildung $\mathbb R^2\to\mathbb R^2$
+\index{Abbildung}%
+\[
+(x,y)\mapsto\begin{pmatrix}u(x,y)\\v(x,y)\end{pmatrix}.
+\]
+Die Ableitung einer solchen Funktion im Punkt $(x_0,y_0)$
+ist eine lineare Abbildung von Vektoren, die in linearer Näherung
+\index{lineare Naherung@lineare Näherung}
+\index{Naherung@Näherung, lineare}
+den Funktionswert bei $f(z_0 + \Delta z)$
+\[
+\begin{pmatrix}
+u(x+\Delta x, y +\Delta y)\\
+v(x+\Delta x, y +\Delta y)
+\end{pmatrix}
+=
+\begin{pmatrix}
+\frac{\partial u}{\partial x}&\frac{\partial u}{\partial y}\\
+\frac{\partial v}{\partial x}&\frac{\partial v}{\partial y}
+\end{pmatrix}
+\begin{pmatrix} \Delta x\\\Delta y \end{pmatrix}
++o(\Delta x, \Delta y).
+\]
+In dieser Sicht einer komplexen Funktion gibt es keine einzelne Zahl, die
+die Funktion einer Ableitung übernehmen könnte, die Ableitung
+ist eine $2\times 2$-Matrix.
+
+%
+% Definition der komplexen Ableitungen
+%
+\subsection{Komplexe Ableitung}
+Die Ableitung einer Funktion einer reellen Variablen wird mit Hilfe des
+Grenzwertes
+\[
+f'(x_0)=\lim_{x\to x_0}\frac{f(x)-f(x_0)}{x-x_0}
+\]
+definiert, oder als diejenige Zahl $f'(x_0)\in\mathbb R$ mit der Eigenschaft,
+dass
+\begin{equation}
+f(x)=f(x_0)+f'(x_0)(x-x_0) + o(x-x_0)
+\label{komplex:abldef}
+\end{equation}
+gilt.
+Der Term $x-x_0$ und die Gleichung \eqref{komplex:abldef} sind aber auch
+für komplexe Argument sinnvoll, wir definieren daher
+
+\begin{definition}
+Die komplexe Funktion $f(z)$ heisst im Punkt $z_0$ komplex differenzierbar
+und hat die komplexe Ableitung $f'(z_0)\in\mathbb C$, wenn
+\index{komplex differenzierbar}%
+\index{komplexe Ableitung}%
+\index{Ableitung!komplexe}%
+\begin{equation}
+f(z)=f(z_0) + f'(z_0)(z-z_0) +o(z-z_0)
+\label{komplex:defkomplabl}
+\end{equation}
+gilt.
+\end{definition}
+
+\begin{beispiel}
+Die Funktion $z\mapsto f(z)=z^n$ ist überall komplex differenzierbar
+und hat die Ableitung $nz^{n-1}$.
+Um dies nachzuprüfen, müssen wir die Bedingung~\eqref{komplex:defkomplabl}
+verifizieren.
+Aus einer wohlbekannten Faktorisierung von $z^n - z_0^n$ können wir den
+Differenzenquotienten finden:
+\begin{align*}
+\frac{f(z)-f(z_0)}{z-z_0}
+&=
+\frac{z^n-z_0^n}{z-z_0}
+=
+\frac{(z-z_0)(z^{n-1}+z^{n-2}z_0+z^{n-3}z_0^2+\dots+z^{n-1})}{z-z_0}
+\\
+&=
+\underbrace{z^{n-1}+z^{n-2}z_0+z^{n-3}z_0^2+\dots+z^{n-1}
+}_{\displaystyle \text{$n$ Summanden}}.
+\end{align*}
+Lassen wir jetzt $z$ gegen $z_0$ gehen, wird die rechte Seite
+zu $nz_0^{n-1}$.
+\end{beispiel}
+
+\begin{beispiel}
+Die Funktion $z\mapsto f(z)=\bar z=x-iy$ ist nicht differenzierbar.
+Wenn $f(z)=\bar z$ differenzierbar wäre, dann müsste es eine Zahl
+$a\in\mathbb C$ geben, so dass
+\[
+\bar z-\bar z_0=a(z-z_0)+o(z-z_0)
+\]
+gilt.
+wählen wir $z=z_0+x$ bzw.~$z=z_0+iy$, dann erhalten wir
+\[
+\begin{aligned}
+z-z_0&=x:&
+\bar z-\bar z_0&=x
+&&\Rightarrow&
+\bar z-\bar z_0&=1\cdot x
+&&\Rightarrow&
+a&=1
+\\
+z-z_0&=iy:&
+\bar z-\bar z_0&=-iy
+&&\Rightarrow&
+\bar z-\bar z_0&=-1\cdot iy
+&&\Rightarrow&
+a&=-1
+\end{aligned}
+\]
+Es ist also nicht möglich, eine einzige Zahl $a$ zu finden, die als
+die Ableitung der Funktion $z\mapsto \bar z$ betrachtet werden könnte.
+\end{beispiel}
+
+Das letzte Beispiel zeigt, dass
+selbst Funktionen, deren Real- und Imaginärteil beliebig oft stetig
+differenzierbare Funktionen sind, nicht komplex differenzierbar
+sein müssen.
+Komplexe Differenzierbarkeit ist eine wesentlich stärkere Bedingung
+an eine Funktion, komplex differenzierbare Funktionen bilden eine
+echte Teilmenge aller Funktionen, deren Real- und Imaginärteil
+differenzierbar ist.
+
+%
+% Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen
+%
+\subsection{Die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen}
+Komplexe Funktionen können nur differenzierbar sein, wenn sich die vier
+partiellen Ableitungen zu einer einzigen komplexen Zahl zusammenfassen
+lassen.
+Um diese Beziehung zu finden, gehen wir von einer komplexen Funktion
+\[
+f(x+iy) = u(x,y) + iv(x,y)
+\]
+aus, und berechnen die Ableitung auf zwei verschiedene Arten, indem
+wir sowohl nach $x$ als auch nach $iy$ ableiten:
+\begin{align*}
+f'(z)&
+=
+\lim_{x\to 0}\frac{f(z+x)-f(z)}{x}
+=
+\frac{\partial u}{\partial x}+i\frac{\partial v}{\partial x}
+\\
+f'(z)&
+=
+\lim_{y\to 0}\frac{f(z+iy)-f(z)}{iy}
+=
+\frac1{i}
+\frac{\partial u}{\partial y}+\frac{\partial v}{\partial y}
+=
+\frac{\partial v}{\partial y}
+-i
+\frac{\partial u}{\partial y}.
+\end{align*}
+Dies ist nur möglich, wenn Real- und Imaginärteile übereinstimmen.
+Es folgt also
+
+\begin{satz}
+\label{komplex:satz:cauchy-riemann}
+Real- und Imaginärteil $u(x,y)$ und $v(x,y)$ einer
+komplex differenzierbaren Funktion $f(z)$ mit $f(x+iy)=u(x,y)+iv(x,y)$
+erfüllen die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen
+\index{Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen}
+\begin{equation}
+\begin{aligned}
+\frac{\partial u}{\partial x}
+&=
+\frac{\partial v}{\partial y},
+&
+\frac{\partial u}{\partial y}
+&=
+-
+\frac{\partial v}{\partial x}.
+\end{aligned}
+\label{komplex:dgl:cauchy-riemann}
+\end{equation}
+\end{satz}
+
+Leitet man die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen nochmals nach
+$x$ und $y$ ab, erhält man
+\begin{equation*}
+\begin{aligned}
+\frac{\partial^2 u}{\partial x^2}
+&=
+\frac{\partial^2 v}{\partial x\,\partial y},
+&
+\frac{\partial^2 u}{\partial x\,\partial y}
+&=
+-\frac{\partial^2 v}{\partial x^2},
+&
+\frac{\partial^2 u}{\partial y\,\partial x}
+&=
+\frac{\partial^2 v}{\partial y^2},
+&
+\frac{\partial^2 u}{\partial y^2}
+&=
+-\frac{\partial^2 v}{\partial y\,\partial x}.
+\end{aligned}
+\end{equation*}
+Die erste und die letzte sowie die mittleren zwei können zu jeweils
+einer Differentialgleichung für die Funktionen $u$ und $v$ zusammengefasst
+werden, nämlich
+\begin{equation*}
+\frac{\partial^2 u}{\partial x^2}
++
+\frac{\partial^2 u}{\partial y^2}
+=
+0
+\qquad\text{und}\qquad
+\frac{\partial^2 v}{\partial x^2}
++
+\frac{\partial^2 v}{\partial y^2}
+=
+0.
+\end{equation*}
+
+\begin{definition}
+Der Operator
+\[
+\Delta =
+\frac{\partial^2}{\partial x^2}
++
+\frac{\partial^2}{\partial y^2}
+\]
+heisst der {\em Laplace-Operator} in zwei Dimensionen.
+
+\index{Laplace-Operator}%
+\end{definition}
+
+\begin{definition}
+Eine Funktion $h(x,y)$ von zwei Variablen heisst {\em harmonisch}, wenn sie
+die Gleichung
+\[
+\Delta h=0
+\]
+erfüllt.
+\index{harmonische Funktion}%
+\index{harmonisch}%
+\end{definition}
+
+\begin{satz}
+Real- und Imaginärteil einer komplexen Funktion sind harmonische Funktionen.
+\end{satz}
+
+Die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen schränken also einerseits stark
+ein, welche Funktionen überhaupt als Real- und Imaginärteil einer
+komplex differenzierbaren Funktion in Frage kommen.
+Andererseits koppeln sie auch Real- und Imaginärteil stark zusammen.
+
+\begin{beispiel}
+Von einer komplex differenzierbaren Funktion $f(z)$ sei nur der Realteil
+$u(x,y)=x^3 -3xy^2$ bekannt.
+Man finde alle möglichen Funktionen $f(z)$.
+
+Zunächst kontrollieren wir, ob dies überhaupt ein Realteil sein kann,
+indem wir nachrechnen, ob $u(x,y)$ harmonisch ist.
+\begin{equation*}
+\begin{aligned}
+\frac{\partial u}{\partial x}
+&=
+3x^2-3y^2
+&&\Rightarrow&
+\frac{\partial^2 u}{\partial x^2}
+&=
+6x
+\\
+\frac{\partial u}{\partial y}
+&=
+-6xy
+&&\Rightarrow&
+\frac{\partial^2 u}{\partial y^2}
+&=
+-6x
+\\
+&&&&\Delta u&=\frac{\partial^2u}{\partial x^2}+\frac{\partial^2u}{\partial y^2}=6x-6x=0,
+\end{aligned}
+\end{equation*}
+$u$ ist also harmonisch.
+
+Um die Funktion $f$ zu finden, brauchen wir jetzt noch den Imaginärteil.
+Wir finden ihn mit Hilfe der Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen.
+Es gilt
+\begin{equation}
+\begin{aligned}
+\frac{\partial v}{\partial x}
+&=
+-\frac{\partial u}{\partial y}=6xy,
+&
+\frac{\partial v}{\partial y}
+&=
+\frac{\partial u}{\partial x}=3x^2-3y^2
+\end{aligned}
+\label{komplex:crbeispiel}
+\end{equation}
+Aus der ersten Gleichung erhält man durch Integrieren nach $x$
+\[
+v(x,y)=-3x^2y + C(y),
+\]
+die Integrations-``Konstante'' ist eine Funktion, die aber nur von $y$
+abhängen darf.
+Die zweite Cauchy-Riemann-Gleichung verwendet die Ableitung von $v$ nach $y$,
+sie ist
+\[
+\frac{\partial v}{\partial y}=3x^2+C'(y).
+\]
+Aus der zweiten Gleichung von \eqref{komplex:crbeispiel} liest man
+ab, dass
+\[
+C'(y)=-3y^2
+\qquad\Rightarrow\qquad
+C(y)=-y^3+k
+\]
+sein muss.
+Damit ist $v$ bis auf eine Konstante bestimmt.
+Die zugehörige Funktion $f(z)$ ist daher
+\[
+f(z)=f(x+iy)=x^3-3xy^2+i(3x^2y-y^3)+ik
+=x^3 + 3x^2iy + 3x(iy)^2+(iy)^3+ik=z^3+ik.
+\]
+Wir haben die Funktion $f(z)$ bis auf eine Konstanten $ik$
+aus ihrem Realteil rekonstruiert.
+\end{beispiel}
+Die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen besagen auch, dass man nur
+die Ableitungen nach $x$ zu berechnen braucht, um die Ableitung $f'(x)$
+zu bestimmen.
+Die Rechenregeln für die Ableitung lassen sich daher direkt auf
+komplexe Funktionen übertragen:
+\begin{align*}
+\frac{d}{dz}z^n
+&=
+nz^{n-1}
+\\
+\frac{d}{dz}e^z
+&=
+e^z
+\\
+\frac{d}{dz}f(g(z))
+&=
+f'(g(z)) g'(z)
+\\
+\frac{d}{dz}\bigl(f(z)g(z)\bigr)
+&=
+f'(z)g(z)+f(z)g'(z)
+\end{align*}
+Die Ableitungsformeln ändern also nicht, die formalen Ableitungsregeln
+für holomorphe Funktionen sind die gleichen wie für reelle Funktionen.
+
+
+