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% (c) 2021 Prof Dr Andreas Müller, OST Ostschweizer Fachhochschule
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\section{Natürliche Zahlen
\label{buch:section:natuerliche-zahlen}}
\rhead{Natürliche Zahlen}
Die natürlichen Zahlen sind die Zahlen, mit denen wir zählen.
\index{natürliche Zahlen}%
\index{N@$\mathbb{N}$}%
Sie abstrahieren das Konzept der Anzahl der Elemente einer endlichen
Menge.
Da die leere Menge keine Elemente hat, muss die Menge der natürlichen
Zahlen auch die Zahl $0$ enthalten.
Wir schreiben
\[
\mathbb{N}
=
\{
0,1,2,3,\dots
\}.
\]

\subsubsection{Peano-Axiome}
\index{Peano}%
Man kann den Zählprozess durch die folgenden Axiome von Peano genauer fassen:
\index{Peano-Axiome}%
\begin{enumerate}
\item $0$ ist eine natürliche Zahl: $0\in\mathbb N$.
\item Jede Zahl $n\in \mathbb{N}$ hat einen {\em Nachfolger}
$n'\in \mathbb{N}$.
\index{Nachfolger}%
\item $0$ ist nicht Nachfolger einer Zahl.
\item Wenn zwei Zahlen $n,m\in\mathbb{N}$ den gleichen Nachfolger haben,
$n'=m'$, dann sind sie gleich: $n=m$.
\item Enthält eine Menge $X$ die Zahl $0$ und mit jeder Zahl auch ihren
Nachfolger, dann ist $\mathbb{N}\subset X$.
\end{enumerate}

\subsubsection{Vollständige Induktion}
Es letzte Axiom formuliert das Prinzip der {\em vollständigen Induktion}.
\index{vollständige Induktion}%
\index{Induktion, vollständige}%
Um eine Aussage $P(n)$ für alle natürlichen Zahlen $n$
mit vollständiger Induktion zu beweisen, bezeichnet man mit
$X$ die Menge aller Zahlen, für die $P(n)$ wahr ist.
Die Induktionsverankerung beweist, dass $P(0)$ wahr ist, dass also $0\in X$.
Der Induktionsschritt beweist, dass mit einer Zahl $n\in X$ auch der
Nachfolger $n'\in X$ ist.
Nach dem letzten Axiom ist $\mathbb{N}\subset X$, oder anders ausgedrückt,
die Aussage $P(n)$ ist wahr für jede natürliche Zahl.

\subsubsection{Addition}
Aus der Nachfolgereigenschaft lässt sich durch wiederholte Anwendung
die vertrautere Addition konstruieren.
\index{Addition!in $\mathbb{N}$}%
Um die Zahl $n\in\mathbb{N}$ um $m\in\mathbb{N}$ zu vermehren, also
$n+m$ auszurechnen, kann man die rekursiven Regeln
\begin{align*}
n+0&=n\\
n+m'&=(n+m)'
\end{align*}
festlegen.
Nach diesen Regeln ist
\[
5+3
=
5+2'
=
(5+2)'
=
(5+1')'
=
((5+1)')'
=
((5+0')')'
=
(((5)')')'.
\]
Dies ist genau die Art und Weise, wie kleine Kinder rechnen lernen.
Sie zählen von $5$ ausgehend um $3$ weiter, manchmal unter Zuhilfenahme
ihrer Finger.
Der dritte Nachfolger von $5$ heisst üblicherweise $8$.

Die algebraische Struktur, die hier konstruiert worden ist, heisst
ein {\em Monoid}.
\index{Monoid}%
Allerdings kann man darin zum Beispiel nur selten Gleichungen
lösen, so etwa hat $3+x=1$ keine Lösung.
Die Addition ist nicht immer umkehrbar.

\subsubsection{Multiplikation}
Es ist klar, dass auch die Multiplikation definiert werden kann, 
sobald die Addition definiert ist.
Die Rekursionsformeln
\begin{align}
n\cdot 0 &= 0 \notag \\
n\cdot m' &= n\cdot m + n
\label{buch:zahlen:multiplikation-rekursion}
\end{align}
legen jedes Produkt von natürlichen Zahlen fest, zum Beispiel
\[
5\cdot 3
=
5\cdot 2'
=
5\cdot 2 + 5
=
5\cdot 1' + 5
=
5\cdot 1 + 5 + 5
=
5\cdot 0' + 5 + 5
=
5\cdot 0 + 5 + 5 + 5
=
5 + 5 + 5.
\]
Doch auch bezüglich der Multiplikation ist $\mathbb{N}$ unvollständig,
die Beispielgleichung $3x=1$ hat keine Lösung in $\mathbb{N}$.

\subsubsection{Rechenregeln}
Aus den Definitionen lassen sich auch die Rechenregeln ableiten,
die man für die alltägliche Rechnung braucht.
Zum Beispiel kommt es nicht auf die Reihenfolge der Summanden
oder Faktoren an. 
Das {\em Kommutativgesetz} besagt
\[
a+b=b+a
\qquad\text{und}\qquad
a\cdot b = b\cdot a.
\]
\index{Kommutativgesetz}%
Die Kommutativität der Addition werden wir auch in allen weiteren
Konstruktionen voraussetzen.
Die Kommutativität des Produktes ist allerdings weniger selbstverständlich
und wird beim Matrizenprodukt nur noch für spezielle Faktoren zutreffen.

Eine Summe oder ein Produkt mit mehr als zwei Summanden bzw.~Faktoren
kann in jeder beliebigen Reihenfolge ausgewertet werden,
\[
(a+b)+c
=
a+(b+c)
\qquad\text{und}\qquad
(a\cdot b)\cdot c
=
a\cdot (b\cdot c),
\]
dies ist das {\em Assoziativgesetz}.
Es gestattet auch eine solche Summe oder ein solches Produkt einfach
als $a+b+c$ bzw.~$a\cdot b\cdot c$ zu schreiben, da es ja keine Rolle
spielt, in welcher Reihenfolge man die Teilprodukte berechnet.

Die Konstruktion der Multiplikation als iterierte Addition mit Hilfe
der Rekursionsformel \eqref{buch:zahlen:multiplikation-rekursion}
hat auch zur Folge, dass die {\em Distributivgesetze}
\index{Distributivgesetz}%
\[
a\cdot(b+c) = ab+ac
\qquad\text{und}\qquad
(a+b)\cdot c = ac+bc
\]
gelten.
Bei einem nicht kommutativen Produkt ist es notwendig,
zwischen Links- und Rechts-Distributivgesetz zu unterscheiden.

Die Distributivgesetze drücken die wohlbekannte Regel des
Ausmultiplizierens aus.
Ein Distributivgesetz ist also grundlegend dafür, dass man mit den
Objekten so rechnen kann, wie man das in der elementaren Algebra 
gelernt hat.
Auch die Distributivgesetze sind daher Rechenregeln, die wir in
Zukunft immer dann fordern werden, wenn Addition und Multiplikation
definiert sind.
Sie gelten immer für Matrizen.

\subsubsection{Teilbarkeit}
Die Lösbarkeit von Gleichungen der Form $ax=b$ mit $a,b\in\mathbb{N}$
gibt Anlass zum sehr nützlichen Konzept der Teilbarkeit.
\index{Teilbarkeit}%
Die Zahl $b$ heisst {\em teilbar} durch $a$, wenn die Gleichung $ax=b$ eine
Lösung in $\mathbb{N}$ hat.
\index{teilbar}%
Jede natürlich Zahl $n$ ist durch $1$ und durch sich selbst teilbar,
denn $n\cdot 1 = n$.
Andere Teiler sind dagegen nicht selbstverständlich.
Die Zahlen
\[
\mathbb{P}
=
\{2,3,5,7,11,13,17,19,23,29,\dots\}
\]
haben keine weiteren Teiler. Sie heissen {\em Primzahlen}.
\index{Primzahl}%
Die Menge der natürlichen Zahlen wird mit der Teilbarkeit zur naheliegenden
Arena für die Zahlentheorie.
\index{Zahlentheorie}%

\subsubsection{Konstruktion der natürlichen Zahlen aus der Mengenlehre}
Die Peano-Axiome postulieren, dass es natürliche Zahlen gibt.
Es werden keine Anstrengungen unternommen, die natürlichen Zahlen
aus noch grundlegenderen mathematischen Objekten zu konstruieren.
Die Mengenlehre bietet eine solche Möglichkeit.

Da die natürlichen Zahlen das Konzept der Anzahl der Elemente einer
Menge abstrahieren, gehört die leere Menge zur Zahl $0$.
Die Zahl $0$ kann also durch die leere Menge $\emptyset = \{\}$
wiedergegeben werden.

Der Nachfolger muss jetzt als eine Menge mit einem Element konstruiert
werden.
Das einzige mit Sicherheit existierende Objekt, das für diese Menge
zur Verfügung steht, ist $\emptyset$.
Zur Zahl $1$ gehört daher die Menge $\{\emptyset\}$, eine Menge mit
genau einem Element.
Stellt die Menge $N$ die Zahl $n$ dar, dann können wir die zu $n+1$
gehörige Menge $N'$ dadurch konstruieren, dass wir zu den Elemente
von $N$ ein zusätzliches Element hinzufügen, das noch nicht in $N$ ist,
zum Beispiel $\{N\}$:
\[
N' = N \cup \{ N \}.
\]

Die natürlichen Zahlen existieren also, wenn wir akzeptieren, dass es
Mengen gibt.
Die natürlichen Zahlen sind dann nacheinander die Mengen
\begin{align*}
0 &= \emptyset 
\\
1 &= 0 \cup \{0\} = \emptyset \cup \{0\} = \{0\}
\\
2 &= 1 \cup \{1\} = \{0\}\cup\{1\} = \{0,1\}
\\
3 &= 2 \cup \{2\} = \{0,1\}\cup \{2\} = \{0,1,2\}
\\
&\phantom{n}\vdots
\\
n+1&= n \cup \{n\} = \{0,\dots,n-1\} \cup \{n\} = \{0,1,\dots,n\}
\\
&\phantom{n}\vdots
\end{align*}
Die Menge $n+1$ besteht also aus den $n+1$ Zahlen von $0$ bis $n$.

Für spätere Verwendung in Kapitel~\ref{buch:chapter:permutationen}
definieren wir hier auch noch eine weiter Art von Standardteilmengen
von $\mathbb{N}$.

\begin{definition}
\label{buch:zahlen:def:[n]}
Die Menge $[n]\subset \mathbb{N}$ ist definiert durch
\[
[n] = \begin{cases}
\{1,2,\dots,n\}&\qquad \text{für $n>0$}\\
\emptyset&\qquad\text{für $n=0$}
\end{cases}
\]
\end{definition}

Jede der Mengen $[n]$ hat genau $n$ Elemente: $|[n]|=n$.

\subsubsection{Natürliche Zahlen als Äquivalenzklassen}
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir die natürlichen Zahlen aus
der leeren Menge schrittweise sozusagen ``von unten'' aufgebaut.
Wir können aber auch eine Sichtweise ``von oben'' einnehmen.
Dazu definieren wir, was eine endliche Menge ist und was es heisst,
dass endliche Mengen gleiche Mächtigkeit haben.

\begin{definition}
Eine Menge $A$ heisst {\em endlich}, wenn es jede injektive Abbildung
$A\to A$ auch surjektiv ist.
\index{endlich}%
Zwei endliche Mengen $A$ und $B$ heissen {\em gleich mächtig},
\index{gleich mächtig}%
in Zeichen $A\sim B$, wenn es eine Bijektion
$A\to B$ gibt.
\end{definition}

Der Vorteil dieser Definition ist, dass sie die früher definierten 
natürlichen Zahlen nicht braucht, diese werden jetzt erst konstruiert.
Dazu fassen wir in der Menge aller endlichen Mengen die gleich mächtigen
Mengen zusammen, bilden also die Äquivalenzklassen der Relation $\sim$.
\index{Aquivalenzklasse@Äquivalenzklasse}%

Der Vorteil dieser Sichtweise ist, dass die natürlichen Zahlen ganz
explizit als die Anzahlen von Elementen einer endlichen Menge entstehen.
Eine natürlich Zahl ist also eine Äquivalenzklasse
$\llbracket A\rrbracket$, die alle endlichen Mengen enthält,  die die
gleiche Mächtigkeit wie $A$ haben.
Zum Beispiel gehört dazu auch die Menge, die im vorangegangenen
Abschnitt aus der leeren Menge aufgebaut wurde.

Die Mächtigkeit einer endlichen Menge $A$ ist die Äquivalenzklasse, in der
die Menge drin ist: $|A| = \llbracket A\rrbracket\in \mathbb{N}$ nach 
Konstruktion von $\mathbb{N}$.
Aus logischer Sicht etwas problematisch ist allerdings, dass wir 
von der ``Menge aller endlichen Mengen'' sprechen ohne uns zu versichern,
dass dies tatsächlich eine zulässige Konstruktion ist.